Dem Geschmack auf der Spur:Aromas Rettung

Lesezeit: 8 min

Jahrzehntelang haben uns Züchter den Geschmack verdorben - Hauptsache Obst und Gemüse wurden äußerlich immer schöner. Jetzt suchen Forscher im Erbgut alter Sorten nach dem wahren Charakter der Früchte.

Sebastian Herrmann

Die Mieze Schindler ist eine alte Zicke. Schwer macht sie es einem. Wer sie pflückt, kriegt sie kaum in den Mund, ohne dass sie pampig reagiert: Matschig wird sie und macht Flecken. Sie vom Beet in die Küche zu tragen, nimmt einem die Mieze erst recht übel.

Ihr Körper ist für derlei Strapazen viel zu weich - ein Charakterzug, mit dem sich diese alte Erdbeersorte dem modernen Konsumenten verweigert. Auch Kunden sind heikel. Sie misstrauen Obst- und Gemüsesorten, deren Aussehen sie irritiert.

Etwa Ochsenherzen, "Cuore di bue", wie sie auch genannt werden: Die Fleischtomaten gelten zwar als perfekte Begleiter für Mozarella, sehen aber zu faltig aus für den Supermarkt. Kunden sind glänzende Tomaten gewöhnt, und auch alte Kartoffelsorten würden heute kaum noch einen Käufer finden. Deren Knollen sind zu lang, zu dick, zu dünn oder zu krumm. Ihre Schale hängt bisweilen in Fetzen herunter, schimmert rötlich oder ist gar schwarz.

Ebenso variantenreich ist der Geschmack einzelner Sorten, die Namen wie "Gelbschaliger Ostbote", "Odenwälder Blaue" oder "Bamberger Hörnle" tragen. Der Kunde entscheidet sich in der Regel für gängige Sorten, deren Äußeres ihm vertraut ist.

Von makelloser Gestalt, aber ohne Geschmack

"Das Aussehen entscheidet", sagt Hermann Menth von der Zentralen Marktund Preisberichtstelle (ZMP) in Bonn. "Ein Kunde im Lebensmitteleinzelhandel will in erster Linie eine saubere Knolle ohne lockere Schale kaufen."

Ob Tomate, Erdbeere oder Apfel: Die modernen Hochleistungssorten in der Früchteabteilung der Supermärkte sind deshalb von makelloser Gestalt, ein Ergebnis langer Züchterarbeit. Doch leider ist ihnen dabei über die Jahre der Geschmack abhanden gekommen.

Die charakterlose, wässrige Hollandtomate zum Beispiel hat längst die originelle, alte Konkurrenz verdrängt. Lässt sich der verloren gegangene Geschmack noch wiederfinden? Dieser Frage gehen neuerdings Wissenschaftler und einzelne Züchter nach. Sie verschreiben sich dem lange missachteten Ziel: Obst- und Gemüse wieder zu mehr Aroma zu verhelfen.

Man wolle "old time taste" mit "modern time touch" verbinden, heißt es etwa bei der Gemüsesaatgutfirma Nunhems, einer niederländischen Tochter des Agrarriesen Bayer CropScience.

"Geschmack ist wieder ein Ziel, da kommt gerade richtig Bewegung in den Markt", sagt Nicolas Schauer, der lange am Potsdamer Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie Tomaten erforscht hat.

Das genetische Potenzial vergessener Sorten

Seit Kurzem arbeitet er für einen kommerziellen Züchter. Wer nach Geschmack suche, müsse sich dem genetischen Potenzial alter, oft fast vergessener Kultursorten zuwenden, sagt er. Und so könnte ausgerechnet die schwierige Mieze Schindler dazu verhelfen, dass Erdbeeren künftig wieder schmecken.

383 Erdbeersorten lagern in den Gewächshäusern und Kühlkammern des Instituts für Obstzüchtung der Bundesanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen (BAZ) in Dresden-Pillnitz - es ist die größte Erdbeersammlung Europas.

Im nahen barocken Schloss an der Elbe residierten einst die sächsischen Kurfürsten. An der Mauer des botanischen Schlossgartens liegt der nüchterne Zweckbau des Instituts.

In den Gewächshäusern dort züchtete Otto Schindler während der Zwanzigerjahre jene Erdbeersorte, die er auf den Kosenamen seiner Gattin "Mieze" taufte und die als Aromawunder gilt. Heute versucht hier der Züchter Klaus Olbricht, die Mieze Schindler zu zähmen.

Unter Feinschmeckern ist die alte Erdbeersorte zwar wieder ein Star, doch "handelbar ist sie nicht", gibt Olbricht zu. Ihre weichen Früchte sind im Schnitt nur ein Drittel so groß wie die handelsüblicher Erdbeersorten. Im Reifezustand sind sie so dunkel, "jeder Supermarktkunde würde sie für verfault halten", sagt Olbricht.

Diese Eigenschaften versuchen die Züchter am BAZ der Frucht auszutreiben. Erste Erfolge gibt es. Die Früchte einiger Züchtungen schmecken bereits ähnlich fruchtig wie die Mieze Schindler und sind gegen einige Pilzkrankheiten resistent.

Schädlingsresistenz und Ertrag wurden wichtiger als Genuss

Nur in Sachen Festigkeit lässt sich das Erbgut der alten Sorte noch nicht verbiegen. Die Pflanzen, die nach ihrem Vorbild gezüchtet wurden, haben auch den Hang zur Matschigkeit geerbt. Die Dresdner Züchter versuchen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden: "Geschmack hat lange nur eine untergeordnete Rolle gespielt", sagt Olbricht.

Andere Prioritäten haben den Genuss in den Hintergrund gedrängt. Die Bauern fordern besonders ertragreiche Pflanzen, die außerdem robust und gegen möglichst viele Schaderreger resistent sind. Die Händler interessiert das Aussehen der Früchte.

Die Ware soll weite Transportwege überstehen und auch im Lager lange frisch bleiben. "Long-shelf-life" lautet der Branchenjargon für letztere Eigenschaft - und dazu braucht es feste Früchte. "Dieses Zuchtziel ist eindrucksvoll erreicht worden", sagt Olbricht.

Das prominenteste Ergebnis der Entwicklung heißt "Elsanta" und ist die kommerziell wichtigste Erdbeersorte auf dem deutschen Markt. Die ZMP beziffert den Marktanteil der holländischen Züchtung in Deutschland auf knapp 70 Prozent.

Nur Aroma steckt in diesen Erdbeeren wenig. Wird Elsanta nur einen Tick zu früh geerntet, schmecken die Früchte fast wie rohe Kartoffeln. "Die Elsanta ist ein ärmlicher Aromatyp", sagt Olbricht, "sie ist genetisch verarmt."

Neuere Züchtungen wie "Camarosa" oder "Camino Real", die vor allem in Marokko und Spanien angebaut werden, preist die Industrie als "Very-long-shelf-life- Sorten".

Übersetzt heißt das: Ihr Fruchtfleisch ist noch härter als das von Elsanta. Und je härter eine Frucht ist, desto schwerer könne sich ihr Aroma entfalten, erklärt Olbricht. Moderne Kultursorten sind eben Spezialisten.

Auf der Suche nach dem neuen, alten Geschmack

So ist es zwar gelungen, etwa die Erdbeersorte "Polka", die auf Selbstpflückfeldern angebaut wird, darauf zu trimmen, dass sie sich besonders leicht vom Stängel zupfen lässt, doch der Geschmack blieb auf der Strecke. "Wer sich so fokussiert, lässt andere Aspekte außer Acht", sagt Olbricht. Von einem genetischen Trichtereffekt sprechen Züchter in diesem Zusammenhang.

Ähnlich sei es bei Rosen gewesen, sagt Detlef Ulrich, Chemiker am Institut für Pflanzenanalytik am BAZ-Standort Quedlinburg. Kunden wünschen Rosen, deren Blüten besonders lange halten.

Die Züchter erfüllten den Wunsch - doch zu einem hohen Preis: Die besonders haltbaren Rosenblütenblätter sind mit einer Schicht natürlichen Wachses überzogen. "Dadurch verströmen diese Rosen fast keinen Duft mehr", sagt Detlef Ulrich.

Wissenschaftler und Züchter müssen deshalb zurück an den Eingang des Trichters, zum genetischen Reichtum alter Sorten. Fündig werden sie in großen Genbanken wie in Dresden-Pillnitz: Neben der Erdbeervielfalt haben die Wissenschaftler dort 843 Apfel-, 194 Süßkirsch- und 162 Pflaumensorten sowie noch einige weitere Obstsorten gesammelt, die heute kaum mehr angebaut werden.

Auf den Institutsfeldern nahe der Elbe stehen hunderte Apfelbäume, gedeihen alte Birnen- und Kirschbäume - für die Züchter eine Schatztruhe, die wertvolles Erbgut hütet. Auch private Netzwerke wie die österreichische Arche Noah haben sich dem Ziel verschrieben, die Sortenvielfalt im Garten zu erhalten.

Die Gärten von Enthusiasten wie Erich Stekovics, der am Neusiedlersee in Österreich mehr als 3000 verschiedene Tomatensorten anbaut, sind wahre Fundgruben für Züchter und Forscher.

So fahndeten zum Beispiel René Henquet, "Produktmanager Tomate" beim Saatguthersteller Nunhems, und seine Kollegen in italienischen Privatgärten nach schmackhaften Tomaten, um nach deren Vorbild eine neue Sorte zu züchten. Das Ergebnis: "Marmandino", eine Tomate "mit traditionellem Geschmack", wie Henquet sagt.

Mieze Schindler hat die DDR überlebt und wird nun per Hand gepflegt

Und Dani Zamir von der Hebräischen Universität Jerusalem kreuzte zusammen mit Nicolas Schauer sowie Alisdair Fernie vom Potsdamer Max- Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie eine wilde, ungenießbare Tomate aus Peru in eine Kultursorte ein. Das Ergebnis: eine neue Sorte von erstaunlicher Süße.

Die Mieze Schindler dagegen hat in den Kleingärten der DDR überlebt. In ihr oder auch in Sorten, die Otto Schindler einst zur Mieze kreuzte - "Lucida Perfecta" und "Johannes Müller" -, blieb der Schlüssel zum Geschmack erhalten.

Tausende ihnen verwandter Sämlinge entstehen jedes Jahr in Dresden-Pillnitz, mühsam per Handarbeit bestäubt. Als Vater- und Mutterpflanze dienen sämtliche Sorten, die gute Ergebnisse versprechen.

Nur wie diese Ergebnisse aussehen, ist kaum vorherzusagen. Viel Glück ist im Spiel. Die Züchter müssen immer wieder bestäuben, warten, gießen, düngen, pflegen und irgendwann probieren - vielversprechende Zöglinge werden weiter vermehrt. "Das ist ein bisschen wie mit eigenen Kindern. Da weiß man auch nicht, wie die einmal sein werden", sagt Viola Hanke, Institutsleiterin in Dresden-Pillnitz.

Zwar gibt es erste Ansätze, die Gensequenzen zu identifizieren, die für einzelne Geschmackskomponenten verantwortlich sind. Bei mindestens 300 Stoffen, die das Erdbeeraroma ausmachen, ist das Verfahren jedoch kaum praxistauglich.

Etwa 15.000 Pflanzen schaffen es im Schnitt für eine Saison ins Freiland, wo Olbricht die Pflanzen pflegt - und auf Erfolg hofft. Er arbeitet dabei mit dem Chemiker Detlef Ulrich zusammen, der knapp 300 Kilometer weiter westlich in Quedlinburg die Komposition gelungener Erdbeeraromen entschlüsselt. "Diese zuchtbegleitende Aromastoffanalytik ist einzigartig", schwärmt Olbricht.

Die molekularen Grundlagen des Geschmacks

Vielversprechende Züchtungen aus Dresden müssen in Quedlinburg zunächst den Gaumen von 15 geschulten Testern standhalten und dann einer chemischen Untersuchung. Anders als der durchschnittliche Kunde soll sich der Geschmacksprüfer nur auf das Aroma konzentrieren.

Der Testraum in Klinikgrau bietet keine Ablenkung. In einzelnen Kabinen stehen jeweils nur eine Schale und ein Glas Wasser. Daneben liegt der Testbogen. Probiert wird bei Rotlicht, so lässt sich die Farbe der Früchte nicht erkennen. "Nur die sensorischen Eindrücke sollen eine Rolle spielen", sagt Ulrich.

Ist der Geruch süßlich? Ist der Geschmack fruchtig-harmonisch? Wie ist das Mundgefühl? Was der Gaumen erschmeckt, wird durch maschinelle Analyse ergänzt. Ulrich und seine Mitarbeiter verarbeiten die Erdbeeren mit Kochsalzlösung im Mixer. Massenspektrometer und Gaschromatografen zerlegendann das Aroma der roten Sauce in ihre einzelnen Elemente.

Die Grundlagen des Geschmacks sind molekular, lassen sich also messen. Geruchseindrücke bestimmen drei Viertel des Erdbeergeschmacks: durch flüchtige Stoffe, die über den Mundraum rückwärtig in die Nase geraten, die sie zuerst wahrnimmt.

Die Zunge differenziert nur nach süß, salzig, sauer, bitter und umami. Von den 300 aromarelevanten Stoffen der Erdbeere seien für den Menschen "nur etwa 20 wirklich wichtig", sagt Ulrich. Zu diesen Schlüsselsubstanzen zählen die fruchtigen Ester und Lactone, die einen pfirsichartigen Geschmack beisteuern. Hexanale hinterlassen einen grasigen Eindruck.

Außerdem steckt Buttersäure im Erdbeerfleisch, die pur ungenießbar wäre: "Sie riecht wie Erbrochenes, gehört aber in eine gut schmeckende Erdbeere", sagt Olbricht. Capronsäure steuert einen weiteren, sogenannten Off-Flavour bei: Bocksgeruch. "Die richtige Mischung ist entscheidend", sagt Ulrich, "das macht es so schwer, das Zuchtziel Geschmack zu erreichen."

Bitterstoffe schmecken nicht, aber sie schützen die Pflanze

Das Fundament einer wohlschmeckenden Erdbeere - ebenso bei einem Apfel, einer Tomate und anderen Früchten - ist das Zucker- Säure-Verhältnis. Darüber hinaus aber wird es kompliziert: "Aroma und Geschmack werden multigen vererbt", sagt Ulrich.

Anders als etwa für die Farbe einer Frucht ist nicht ein einzelnes Gen für eine geschmacksrelevante Mutation verantwortlich, sondern gleich eine ganze Reihe von Genen.

Oft hängen Resistenzen und Schädlingsabwehr einer Frucht mit dem Geschmack zusammen, den der Mensch wahrnimmt: Es sind die Stoffe, mit denen sich Pflanzen gegen Fressfeinde schützen, etwa Bitterstoffe im Salat, die in den vergangenen Jahrzehnten systematisch weggezüchtet wurden.

Die Terpene zum Beispiel: Diese Moleküle dienen der Abwehr von Schädlingen und hinterlassen in hohen Konzentrationen ein raues und pelziges Gefühl im Mund, in geringerer Dosis jedoch einen blumigen Eindruck.

Ein schmaler Grat. Die geschmackliche Geheimwaffe der Mieze Schindler stammt ebenfalls aus dem Abschreckungsarsenal der Frucht: Methylanthranilat. Der Stoff wirkt bioaktiv und erzeugt bei Vögeln Ekel. "Wir Menschen hingegen empfinden ihn als fruchtiges Aroma", sagt Ulrich.

In Hochleistungssorten wie Elsanta fehlt Methylanthranilat. Es fiel anderen erwünschten Eigenschaften zum Opfer. Ob Forscher und Züchter es schaffen, trotz all dieser komplex verwobenen Faktoren Geschmack in eine supermarkttaugliche Frucht zu packen? "Es wird noch Jahre dauern", sagt Olbricht.

Bis eine neue Erdbeere beim Deutschen Sortenamt angemeldet werden kann, vergeht vom ersten Züchtungsversuch bis zur fertigen Pflanze meist ein Jahrzehnt.

Eines aber stimmt die Geschmacksretter optimistisch: das Beispiel Marmandino. Es könnte Schule machen. Nunhems bewirbt diese neue Tomate jetzt als besonders gesund, der sekundären Pflanzeninhaltsstoffe wegen. Deren Wirkung ist zwar umstritten, ihre wichtige Rolle im Konzert der Aromastoffe ist jedoch belegt.

So könnte das Gesundheitsargument selbst skeptische Kunden dazu bringen, auch unansehnliche Früchte zu kaufen. Dem guten Geschmack wäre damit gedient.

© SZ Wissen 16 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: