Bionik:Superkleber aus Seepocken, Schiffsfarbe à la Hai

Lesezeit: 5 min

Weg von der bloßen Kopie: Bioniker übertragen Baupläne der Natur in neue Technik.

Tina Baier

Elsa Reichmanis schwärmt von Spinnen wie andere Leute von Robbie Williams. Das liegt wohl an ihrem Beruf. Sie ist Materialforscherin bei den Bell Labs in New Jersey und ständig auf der Suche nach neuen Substanzen mit außergewöhnlichen Eigenschaften.

Haihaut löst ein Problem ökologisch, für das Menschen giftige Farben einsetzen. (Foto: Foto: AFP)

"Die Seide der Spinne ist allen menschlichen Erfindungen überlegen", sagt sie. Sie ist belastbarer als Stahl, dehnbarer als Nylon und dabei auch noch wasserfest. Der Traum eines jeden Materialforschers. Doch alle Versuche, die Seide nachzubauen, sind bisher gescheitert.

Selbst wenn man genau wüsste, aus welchen Substanzen sie zusammengesetzt ist, wäre der Herstellungsprozess eine Herausforderung. Dutzende Drüsen verspinnen im Hochleistungsbioreaktor Spinne die verschiedenartigsten Sekrete. Noch in den Ausfuhrgängen werden entscheidende Substanzen beigemischt.

Schon seit längerem versucht der Mensch, die genialen Erfindungen der Natur zu kopieren und für sich zu nutzen - doch bisher ist dabei meistens nur ein plumper Abklatsch herausgekommen. Das scheint sich gerade zu ändern.

Die Bionik, die Synthese zwischen Biologie und Technik, ist einer der dynamischsten Wissenschaftsbereiche, die es zurzeit gibt. Eigene Studiengänge werden eingerichtet und Förderprogramme ausgeschrieben. Das Fachgebiet hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt.

Neue physikalische Analyseverfahren ermöglichen es Bionikern, die Nanostrukturen von Organismen zu untersuchen. Anders als bisher stehen sie nicht mehr nur bewundernd vor den Ergebnissen der Evolution, sondern beginnen, die Gestaltungsprinzipien der Natur zu verstehen.

"Der Unterschied ist wie der zwischen einem Schönheitschirurgen und einem Genetiker", sagt Arnim von Gleich von der Universität Bremen. Während der eine nur an der Oberfläche schabt, kann der andere ins Erbgut eingreifen.

Er selbst ist an einem Projekt beteiligt, bei dem es um die Herstellung von künstlichem Perlmutt geht. Vorbild der Wissenschaftler war die Hausbautechnik der Abalone-Seeschnecke.

Das Ausgangsmaterial für das Schneckenhaus ist Aragonit, eine Form von Kalk. Normalerweise kristallisiert dieses Material zu Nadeln, doch die Seeschnecken verarbeiten es zu einer hochgeordneten Struktur aus Nanoplättchen.

"Die Tiere schaffen eine Proteinoberfläche, deren spezielle Ladungsverteilung den Kristallisationsprozess so steuert, dass Plättchen statt Nadeln entstehen", sagt von Gleich. "Inzwischen kriegen wir das im Labor auch hin." Die Farbindustrie ist bereits interessiert.

Denn herkömmliche Kalkfarben färben leicht ab, da die Nadelstruktur nicht besonders gut haftet. Die Nanoplättchen halten sich dagegen gegenseitig, so dass man sich Bindemittel und eventuell auch das Weißpigment sparen kann. Beides ist sowohl aus ökologischen als auch aus ökonomischen Gründen interessant.

Theoretisch ließen sich aus dem Perlmutt auch Oberflächen mit Abschältechnik herstellen. Wenn die oberste Schicht schmutzig oder etwa mit Graffiti besprüht ist, könnte man sie einfach abschälen; die Oberfläche sähe wieder aus wie neu.

Das Projekt ist einer von sechs Gewinnern des Bionikwettbewerbs, den das Bundesforschungsministerium (BMBF) in diesem Jahr vergeben hat, und wird mit 200 000 Euro gefördert.

"Wir sehen großes Zukunftspotenzial in diesem Bereich", sagt Frieder Meyer-Krahmer, Staatssekretär im Bundesforschungsministerium. Die Bionik befinde sich nun in einem Stadium, in dem sie aus dem Labor heraus in die praktische Anwendung komme.

Das BMBF will das Fachgebiet in den kommenden zehn Jahren mit 50 Millionen Euro fördern. In den vergangenen vier Jahren haben Bioniker etwa die Hälfte bekommen. "Das geht jetzt erst richtig los", sagt Antonia Kesel, die an der Hochschule Bremen den Studiengang Bionik leitet. "Man wird die Lehrbücher umschreiben müssen, etwa auf dem Gebiet der Aerodynamik, wenn man erst mal die Mechanismen fliegender Organismen besser versteht."

Mit dem Studiengang Bionik will sie ein Grundproblem des Fachgebiets angehen: Die Ingenieure, die ein bestimmtes technisches Problem lösen müssen, haben keinen Kontakt zu den Biologen, die die Lösung in der Natur vielleicht schon längst entdeckt haben. "Man braucht Experten, die sich in beiden Welten bewegen können und die beide Fachsprachen verstehen", sagt Kesel.

Die Bionikerin erhofft sich durch die Spionage im Labor der Natur "Innovationssprünge auf Gebieten, in denen der Mensch durch bloßes Nachdenken nicht mehr weiterkommt".

Etwa beim Thema Energiesparen. Im Gegensatz zum Menschen brauchen Spinnen und Seeschnecken keine hohen Temperaturen oder Drücke, um ihre High-Tech-Materialien herzustellen. Zudem sind viele natürliche Prozesse selbstorganisierend: "Für die Perlmuttproduktion nach dem Vorbild der Seeschnecke stellt man die Kristallisationsoberfläche zur Verfügung und gibt das Ausgangsmaterial dazu; die Plättchen bilden sich dann energiesparend von selbst", sagt von Gleich.

Technologie, die von Menschen erfunden wurde, funktioniert dagegen oft nur unter genau festgelegten Rahmenbedingungen, die mit großem Energieaufwand ständig kontrolliert werden müssen. Die Seeschnecken produzieren ihr Perlmutt dagegen in einer Dreckbrühe ebenso gut wie in kristallklarem Wasser.

Auch mit Ressourcen geht die Natur viel effizienter um als der Mensch. Bäume etwa produzieren Holz ausschließlich an Stellen, an denen dies unerlässlich ist, um Spannungen auszugleichen. Claus Mattheck vom Forschungszentrum Karlsruhe hat die Wachstumsstrategie der Bäume in ein Computerprogramm übersetzt.

Das CAO-Verfahren (Computer-Aided Optimization) wird in der Autoindustrie eingesetzt, um möglichst stabile Bauteile mit geringstem Materialeinsatz zu konstruieren. Die Formen, die dabei entstehen, sind oft ganz anders - komplexer und runder - als Strukturen, die Menschen sich ausdenken.

Außergewöhnliche Materialien stellt die Natur zudem oft aus ganz einfachen und deshalb meist billigen Rohstoffen her: zum Beispiel unzerbrechliches Glas aus Silikat wie das Venusblumenkörbchen Euplectella. Der Tiefseeschwamm heißt in Japan auch "Gefängnis der Ehe" und ist ein beliebtes Hochzeitsgeschenk.

Er lebt in Tiefen bis zu 5000 Metern und hat ein filigranes Glasskelett. Durch feine Löcher in dieser Struktur gelangen Garnelenlarven ins Innere. Meist siedeln sich Pärchen an, die schnell zu groß werden für die winzigen Öffnungen. Trotz kräftiger Zangen gelingt es den Tieren nicht, ihren Glaskäfig zu zerstören.

Das Krabbenpaar verbringt sein ganzes Leben in dem Schwamm, dessen Spezialglas nicht nur ausbruch-, sondern auch einbruchsicher ist und die Tiere deshalb vor Feinden schützt. "Die außergewöhnlichen Eigenschaften dieses Materials beruhen unter anderem auf einer speziellen Konstruktion aus vertikalen, horizontalen und diagonalen Glasfasern, die an ein Fachwerkhaus erinnert", sagt Elsa Reichmanis, in deren Labor die Struktur kürzlich entschlüsselt wurde.

Schließlich sind die einzelnen Glasschichten durch einen hauchdünnen Klebefilm aus organischem Material verbunden. Risse werden daran abgelenkt und am Ausbreiten gehindert, sodass das eigentlich spröde Material nicht bricht.

Viele physikalische Probleme, mit denen der Mensch zu kämpfen hat, haben sich im Lauf der Evolution auch anderen Lebewesen gestellt. Mit dem Unterschied, dass die Natur Milliarden Jahre Zeit hatte, sie zu lösen.

Schnell schwimmende Hochseehaie etwa haben dasselbe Problem wie Schiffsbauer: Weder der Körper des Hais noch Schiffsrümpfe dürfen von Organismen besiedelt werden. Denn eine Schicht aus Mikroorganismen, Algen und anderen Lebewesen erhöht den Widerstand und damit den Energieverbrauch.

Schiffe wurden deshalb mit einer hochgiftigen zinnhaltigen Farbe gestrichen, die seit dem Jahr 2003 weltweit verboten ist. Die kupferhaltige Alternative, die derzeit verwendet wird, ist ebenfalls umweltschädlich.

Haie haben das Problem ökologischer gelöst: Ihre Haut ist so strukturiert, dass die Organismen darauf keinen Halt finden. Antonia Kesel hat deshalb mit künstlicher Haihaut aus verschiedenen Materialien als Alternative experimentiert. Das Patentierungsverfahren läuft.

Bei den Experimenten begann Kesel, Seepocken als ihre persönlichen Feinde zu betrachten. Die Tiere setzten sich auf den unmöglichsten Materialien fest und ließen nie mehr los. Doch das brachte sie schließlich auf eine Idee für ein neues Projekt: die Pocken als Vorbild für einen Superkleber, der unter Wasser härtet.

Etwas Vergleichbares gibt es in der High-Tech-Welt der Menschen noch nicht.

© SZ vom 29.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: