Wie weit ist es noch bis nach Hause? Für Wüstenameisen hat diese Frage enorme Bedeutung. Einmal zu früh oder im falschen Winkel abgebogen - schon gilt es, ein paar zusätzliche Meter auf dem bis zu 70 Grad heißen Saharaboden zu bewältigen, die den Hitzetod bedeuten können. Um dem zu entgehen, besitzen Wüstenameisen ein ausgeklügeltes Navigationssystem, dessen Raffinesse sich Wissenschaftlern erst nach und nach erschließt. So berichteten Biologen der Universität Ulm kürzlich im Fachmagazin Science, dass Wüstenameisen Entfernungen unter anderem mithilfe des sogenannten optischen Flusses messen. Dabei speichern die Tiere ab, wie die Landschaft während der Fortbewegung an ihnen vorbeizieht.
In der Wüste ist Orientierung lebenswichtig, jeder Irrweg kann im Hitzetod enden
Bienen und Wespen nutzen dieses Konzept ebenfalls, das wissen Forscher schon länger. Im Fall der Wüstenameisen galt der optische Fluss jedoch als unwichtig, nachdem Biologen bei ihnen den "Schrittintegrator" entdeckt hatten, so bezeichnen die Forscher die kognitive Fähigkeit der Ameisen, die Länge mit der Anzahl ihrer Schritte zu verrechnen und so die zurückgelegte Entfernung zu ermitteln. Zusätzlich erkennen sie die korrekte Bewegungsrichtung anhand des Polarisationsmusters des Sonnenlichts. Wer weiß, wie lange er in welche Richtung laufen muss, findet heim - das Rätsel um die Navigationskünste der Ameisen hätte damit also bereits gelöst sein können.
Doch die Natur hat es gut mit den Wüstenameisen gemeint und sie mit zwei unabhängigen Systemen zur Distanzmessung ausgestattet, wie die Experimente von Sarah Pfeffer und Matthias Wittlinger gezeigt haben. Die Ulmer Biologen ließen im Labor Wüstenameisen, die von ihren Artgenossen auf dem Hinweg getragen worden waren, den Heimweg auf eigenen Beinen bewältigen. Auch in der Natur transportieren Wüstenameisen einander, wenn die Kolonie in ein neues Nest umzieht. Dabei rollt sich das getragene Tier unter dem Körper seines Transporteurs zusammen. Seine Umgebung nimmt es also verkehrt herum wahr.
Stünde den Insekten allein der Schrittintegrator zur Distanzmessung zur Verfügung, wären die getragenen Tiere in diesem Versuch hilflos gewesen. Stattdessen fanden sie problemlos den richtigen Weg. Als die Forscher den getragenen Tieren im Kontrollversuch jedoch die Augen vorübergehend verdeckten, konnten sich die Insekten nicht mehr orientieren. Somit dient der optische Fluss offenbar als Orientierungshilfe, wenn der Schrittintegrator ausfällt. "Wie die Ameisen das genau schaffen und woran sie sich beim optischen Fluss orientieren, wissen wir aber noch nicht", sagt Pfeffer.
Fest steht nach ihren Versuchen immerhin, dass die Distanzmessung mittels optischem Fluss unabhängig vom Schrittintegrator funktioniert. Als Pfeffer und Wittlinger in einem weiteren Experiment den getragenen Ameisen für den selbst zu bewältigenden Rückweg die Augen verbanden - und ihnen damit die Orientierung mit optischem Fluss verwehrten - irrten die Tiere umher. Offenkundig hatten sie auf dem Hinweg, als sie noch bei voller Sicht optische Eindrücke sammeln konnten, diese Informationen nicht mit der Schrittzahl und -weite in Verbindung gesetzt. Somit besitzen die Tiere zwei voneinander unabhängige Wege, um Entfernungen zu berechnen. "Beide Mechanismen funktionieren gleichwertig", sagt Pfeffer. Diese doppelte Absicherung erscheint sinnvoll in einer Umgebung wie der Sahara, wo jedes Verlaufen im tödlichen Hitzekollaps enden kann.
