Baubionik:Wohnen im Pflanzenhalm

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Pavillon "HygroSkin": Die Fenster öffnen und schließen je nach Luftfeuchtigkeit (Foto: Achim Menges / ICD)

Atmende Bauwerke, denkende Fenster, selbstheilende Wände: Architekten entdecken die Natur als Vorbild. Was sie von Hummerpanzern und Fichtenzapfen lernen, lässt sich an kühnen Prototypen schon bewundern.

Von Michael Brüggemann

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen zuhause in der Küche, und plötzlich öffnet sich das Fenster wie von Geisterhand. Ähnlich verdutzt guckten die Studenten, die im Frühjahr 2013 im Stuttgarter Stadtgarten nahe der Uni einen Holzpavillon umlagerten. Wie Blütenblätter klappten die hölzernen Lüftungsflügel in der Fassade auf und zu. Ganz ohne Motor oder Antrieb. Zogen Regenwolken auf, schlossen sie sich, blinzelte die Sonne durch, gingen sie wie in Zeitlupe wieder auf. Es war, als könnte das Gebäude atmen.

Hinter dem wundersamen Vorgang steckt ein Mechanismus aus der Natur. Man kann ihn selbst ausprobieren, indem man einen Kiefern- oder Fichtenzapfen auf den Balkon legt und der Witterung aussetzt: Bei Trockenheit öffnen sich die Deckschuppen und geben den Flugsamen frei. Steigt die Luftfeuchte, schließen sie sich wieder und schützen den Samen vor Regen und Sturm.

Architekt Achim Menges hat sich den Mechanismus aus der Natur abgeschaut und für den Pavillon verwendet. "Für die Bewegung ist weder Energie noch Elektronik nötig", sagt Menges, der in Stuttgart und Harvard Architektur lehrt. "Das Material ersetzt die Maschine." Für die wetterfühlige Haut entwickelte der 38-Jährige mit zwei Kollegen einen Holzverbundwerkstoff, der auf Feuchtigkeitsschwankungen reagiert. Bei hoher Luftfeuchte dehnt sich das an der Rückseite mit Glasfasern beschichtete Holz aus, und die Klappen schließen sich selbstständig. Bessert sich das Wetter, zieht sich das Holz zusammen. Die Klappen öffnen sich wieder, sie lassen Licht und Luft herein. Das Auf- und Zuklappen dauert jeweils nur etwa fünf Minuten. Mittlerweile ist der "atmende Pavillon" im FRAC Centre, einer Kunsthalle in Orléans, zu bewundern.

"Wir haben Tausende Jahre lang versucht, Holz davon abzubringen, dass es sich so verhält", sagt Menges. "Dabei ist das Anschwellen und Schwinden ein natürlicher Vorgang: Das Material reagiert auf seine Umwelt."

Die Bioniker träumen von atmenden Fassaden

So wie Achim Menges lassen sich Architekten, Ingenieure und Materialforscher von natürlichen Vorbildern inspirieren. Baubionik nennt sich dieser noch junge Wissenschaftszweig, in dem Forscher Konstruktionsprinzipien aus der Pflanzen- und Tierwelt analysieren und auf die Bautechnik übertragen. Die Natur ist ein erfahrener Baumeister: Im Laufe von 3,8 Milliarden Jahren Evolution entwickelte sie grazile, energie- und materialsparende Baupläne. "Ein nahezu unerschöpflicher Fundus", sagt Menges. Die Vorbilder aus Flora und Fauna könnten unsere Häuser auf Dauer grundlegend verändern: weg von abweisenden Bollwerken, hin zu mitdenkenden Fassaden, die atmen, sich selbst reparieren oder nur noch aus einem einzigen, leicht wiederverwertbaren Material bestehen.

Pavillon "HygroSkin" (Foto: Achim Menges / ICD)

An der Universität Stuttgart lässt sich diese Zukunft des Bauens schon heute bestaunen. Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD), baut gemeinsam mit seinen Studenten und dem benachbarten Institut für Tragkonstruktion und Konstruktives Entwerfen (ITKE) seit 2010 jedes Jahr einen Forschungspavillon, für den eine Tier- oder Pflanzenart Pate steht. Äußerlich haben die Bauwerke mit ihren biologischen Vorbildern wenig gemein. Denn den Ingenieuren geht es nicht darum, eine Form abzukupfern - sie wollen vielmehr die Idee dahinter verstehen, sie für ihre Zwecke übersetzen und für neue Bauweisen erproben. Vom Hummerpanzer lernten die Ingenieure, wie leicht und trotzdem fest und robust eine Außenhülle sein kann. Heraus kam ein traumhaft schönes Gespinst auf fünf schwarzen Beinen, umspannt von einem nur vier Millimeter dicken, selbsttragenden Faserkleid. Es überdacht die Fläche eines Ein-Zimmer- Appartements und wiegt doch nur 320 Kilo - so wenig, dass die Studenten es selbst über den Campus trugen und aufstellten. Ein wabenartiger Holzpavillon, der 2011 entstand, war inspiriert vom Skelett eines Seeigels. Mehr als 800 Sperrholzplatten wurden zu etwa vier Dutzend vier- bis siebeneckigen Holzelementen zusammengesetzt. Um 72 Quadratmeter zu überdecken, reichten zwei Kubikmeter Holz - ein Stapel von der Größe eines Kleiderschranks.

"In der Natur ist Effizienz ein Überlebenskriterium", sagt Oliver David Krieg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ICD. "Tiere und Pflanzen sind ideale Vorbilder, um ökologisch wie ökonomisch zu bauen." Dafür müssen die Planer allerdings umdenken und selbst langjährig erprobte Baumethoden in Frage stellen. Denn die Natur konstruiert völlig anders als der Mensch. "Im Ingenieurbau hat jedes Teil meist nur eine Funktion", sagt ITKE-Leiter Jan Knippers. "Platzt beim Auto ein Reifen, fährt es nicht weiter. Baumstämme bestehen dagegen größtenteils aus Zellen, die mit Zellulosefasern verstärkt sind. Diese sind lokal unterschiedlich ausgeformt und übernehmen verschiedene Aufgaben."

Die filigrane und zugleich robuste Bauweise der Pflanzen stellt die Freiburger Forscher immer wieder vor Rätsel. Um das Geheimnis ihrer Stabilität zu lüften, malträtieren sie Halme mit Schlagpendeln oder spannen sie in Zugmaschinen ein und simulieren Orkane. Der Riesenschachtelhalm offenbarte in diesen Tests erstaunliche Materialeigenschaften. Bis zu zwei Meter hoch wächst der nur fingerbreite Pflanzenstängel. Ein Hochhaus in Grün, dessen einzelne Bauabschnitte sich wie eine Teleskopstange auseinanderschieben. Das Material wiegt fast nichts, trotzdem ist es extrem stabil. Erst wer den Halm aufschneidet, versteht sein Geheimnis: Innen hohl, stützt ihn ein äußerer Ring aus Kammern. Zusammen mit dem Pfahlrohr, einem Gewächs, das selbst schweren Mittelmeerstürmen standhält, diente der Schachtelhalm den Freiburger Forschern als Vorbild für einen neuen Baustoff: den "Technischen Pflanzenhalm", den sie gemeinsam mit dem Institut für Textil- und Verfahrenstechnik im schwäbischen Denkendorf, Deutschlands größtem Textilforschungszentrum, entwickelten. Der recycelbare Halm aus Kunststofffasern ist belastbarer als Stahlbeton und leichter als Aluminium. Mit Beton gefüllt, soll er künftig herkömmliche Stahlstützen und -träger ersetzen. In den Hohlräumen wollen die Wissenschaftler platzsparend Wasserleitungen oder Stromkabel verlegen. "Wir verbauen nur dort Material, wo wir es tatsächlich brauchen", erklärt Biologe Thomas Speck. Der neue Baustoff könnte in Zukunft etwa bei Hochhäusern zum Einsatz kommen. Dort ist das Eigengewicht der Bauteile ein großes Problem. Beim Burj Khalifa in Dubai, dem mit 828 Metern höchsten Gebäude der Welt, wurden in den unteren Etagen gewaltige Mengen hochfester Beton verbaut, um die Last der Obergeschosse zu tragen. Der extrem hohe Materialverbrauch solcher Wolkenkratzer ließe sich durch den neuen Baustoff verringern. Aber auch für ganz normale Wohnhäuser, Messe- und Zeltbauten ist der "Halm" interessant.

Reparierender Schaum

Was aber, wenn sich die Last im Laufe der Zeit erhöht? Auch hier weiß die Natur eine Antwort. "Bäume formen an Stellen mit höherer Spannung Rippen, Wülste oder Brettwurzeln aus", sagt Speck. "Auf diese Weise trotzen sie selbst schweren Unwettern." Entstehen dennoch Risse, verarztet sich der Baum selbst. Auch Schlingpflanzen beherrschen die Selbstheilung. Reißt durch Wachstum der verholzte Festigungsring unter der Rinde auf, füllen sie die Bruchstellen mit frischem Gewebe. "Die Zellen stehen unter einem höheren Innendruck als ein Autoreifen und quellen sofort in den Riss", sagt Specks Frau Olga. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Bionik-Forschungsteam konstruierte die promovierte Biologin, die für ihre Bionik-Forschung an der Uni Freiburg mehrfach ausgezeichnet wurde, nach dem Vorbild der Schlingpflanze einen selbstreparierenden Schaum. Mit diesem lassen sich Risse in luftgefüllten Membranen, die Hallen oder Sportstadien umhüllen, schon im Moment der Beschädigung reparieren. Verletzt ein Nagel die Dachhaut, quillt der Schaum in die beschädigte Stelle und versiegelt bis zu fünf Millimeter große Löcher dauerhaft.

Werden unsere Häuser sich also künftig selbst verarzten und Fenster sich von allein öffnen? "Bislang bauen wir nur einzelne Pavillons und Prototypen", sagt Thomas Speck. "Für Einfamilienhäuser oder Büros sind die Baukosten noch viel zu hoch." Er forscht mit seinem Team in einem 70er-Jahre-Hochschulbau - ein unbeweglicher Klotz, weit entfernt von der Flexibilität der Pflanzen, die dort untersucht werden. Die Elektronenmikroskope der Forscher lagern auf tonnenschweren, schwingungsdämpfenden Betonplatten. Sie wurden nachträglich eingebaut, die Gebäudestatik ist eigentlich nicht für sie ausgelegt. Notgedrungen wurden die Mikroskope an die wenigen Stützen im Haus gerückt - ein dauerhaftes Provisorium.

Ein Gebäude, das nicht starr ist, sondern sich wie ein Organismus an die stetigen Veränderungen in unserem Leben anpasst? Keine Frage, der Biologe Speck würde sofort einziehen.

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