Auswilderung und Artenschutz:Zurück zur Natur

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In freier Wildbahn waren die Mhorr-Gazellen ausgestorben. Der Münchner Zoodirektor Henning Wiesner über die abenteuerlichen Versuche, sie wieder in Afrika anzusiedeln.

Astrid Becker

Vor 28 Jahren hatte Henning Wiesner als neuer Münchner Zoodirektor eine Vision: Er wollte die in freier Wildbahn ausgestorbenen Mhorr-Gazellen wieder in ihre Heimat Nordafrika zurückbringen. Das Bayerische Fernsehen war bereits 1992 in Afrika dabei und hat dort nun wieder mit Wiesner einen Film gedreht: "Gazellen - der große Sprung in die Sahara" ist am heutigen Samstag, 19 Uhr, in der Reihe "Natur Exklusiv" des Bayerischen Fernsehens zu sehen. Vorab erzählt Wiesner in der SZ von einem seiner größten Abenteuer in Sachen Tier- und Artenschutz.

Henning Wiesner hat Jahre zähen Kampfes hinter sich, bis er seine Idee realisieren konnte: Kritiker warfen ihm vor, zu viel Geld für den Aufbau der Zucht in Hellabrunn auszugeben oder bezweifelten, dass es sich bei den acht Tieren aus Spanien wirklich um echte Mhorr-Gazellen handelt. Erst ein wissenschaftliches Gutachten brachte Klarheit. Aus den acht Tieren hat Hellabrunn mittlerweile 101 Nachkommen gezüchtet. 1992 brachte Wiesner zusammen mit dem Zoo von Almeria insgesamt sechs Tiere nach Marokko - heute sind daraus mehr als 220 Gazellen geworden. 18 davon wurden vor kurzem in ein neues Gebiet übersiedelt. Sie sollen sich dort vermehren und später wieder in ganz Nordafrika heimisch werden. (Foto: Foto: oh)

SZ: Nach all den Jahren haben Sie "Ihre" Mhorr-Gazellen nun in ihrer angestammten Heimat gesehen. Was empfindet man in einem solchen Moment?

Henning Wiesner: Mir hat es buchstäblich die Sprache verschlagen. Aus sechs Tieren sind mehr als 220 geworden! So viele Mhorr-Gazellen auf einmal, die sich anmutig durch die Akazien-Landschaft bewegen - das war sehr ergreifend für mich. Wobei man ja ganz klar sagen muss: "Meine" Mhorr-Gazellen sind das ja nicht mehr, diese 220 sind alle in Marokko geboren. Interessanterweise sind sie viel dunkler gezeichnet als bei uns im Zoo und bereiten uns einiges Kopfzerbrechen.

SZ: Inwiefern?

Wiesner: Weil die charakteristischen optischen Merkmale der Tiere, ihr weißer Spiegel am Hinterteil und der weiße Kehlfleck, individuell völlig verschieden ausgeprägt sind. Bei dem quasi sehr kleinen Genpool, es waren ja nur so wenig "Foundertiere", müssten sich deren Nachkommen wie ein Ei dem anderen gleichen. Das ist aber nicht der Fall - jedes ist anders gezeichnet.

SZ: 1968 hatte Bernhard Grzimek in seinem Tierleben die Mhorr-Gazelle als ausgerottet beschrieben. Warum gibt es sie dann überhaupt noch?

Wiesner: Ein spanischer Oberst hatte Anfang der siebziger Jahre die letzten 19 Exemplare als Kitze aus freier Wildbahn von Beduinenkindern gekauft. Elf Tiere davon haben sich später in einer Zuchtstation des heutigen Parque de Rescate de la Fauna Sahariana in Almeria fortgepflanzt. Von diesen sogenannten Foundertieren stammen also alle heute lebenden Mhorr-Gazellen ab.

Auch die acht Tiere, die wir 1981 bekamen und aus denen wir bis heute insgesamt 101 Tiere nachzüchten konnten. Die Zucht lief von Anfang an sehr gut, und so entschlossen sich der Zoo von Almeria und wir 1992, jeweils drei Tiere, also drei Männchen und drei Weibchen, in die Domaine Royal R'Mila in der Nähe von Marrakesch zu übersiedeln.

SZ: Warum dorthin?

Wiesner: Der damalige König von Marokko, Hassan II., hatte uns dafür sein ehemaliges Hühnerjagdgebiet zur Verfügung gestellt. Er wollte dort nicht mehr jagen, weil er zwei Anschlägen auf sein Leben nur knapp entronnen war. Für unsere Gazellen ist das Gebiet ideal - es ist umzäunt, bewacht und bietet mangels anderer Futterfeinde genug Nahrung. Andernfalls wären nie aus nur sechs Tieren eine Herde von mehr als 220 geworden.

SZ: Und aus diesen 220 Tieren sollten Sie nun rund 20 in ein anderes Gebiet bringen - ein Abenteuer, das fast böse ausgegangen wäre, wie der Film zeigt.

Wiesner: Allerdings. Überhaupt stand das Ganze unter wenig glücklichen Vorzeichen. Das marokkanische "Haut Commissariat aux Eaux et Forêts et à la Lutte Contre la Désertification" hatte uns gebeten, beim Transport der Tiere in ihre neue Heimat zu helfen und auch einen Termin dafür genannt. Doch zunächst wurde das Vorhaben immer wieder verschoben.

Geplant war, die Tiere in ein relativ neues, 40 Quadratkilometer großes Naturschutzgebiet, dem bislang größten seiner Art in Marokko, südlich des Atlasgebirges bei M'cissi zu bringen. Mit Mitteln des Naturschutzbundes Deutschland war es eingezäunt worden - das ist wichtig, weil sonst die Haustiere der einheimischen Viehzüchter alles ratzekahl fressen würden und die Gazellen kein Futter mehr finden könnten. Als der Termin dann endgültig feststand, ahnten wir nicht, was uns alles bevorstand.

SZ: Wie sollten die Tiere denn transportiert werden?

Tierärztin Julia Maltzan und Henning Wiesner kontrollieren die Netze, mit denen die Gazellen eingefangen werden sollen. (Foto: Foto: oh)

Wiesner: Vorausschicken muss ich, dass derartige Aktionen nie eine einfache Angelegenheit sind. Die Mhorr-Gazellen in R'Mila haben eine hohe Fluchtdistanz, 80 Meter und mehr, sie kommen ja nicht einfach her und steigen freiwillig in eine Kiste. Man muss sie also fangen und medikamentös auf ihren Transport vorbereiten. Da ist sehr viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung nötig, will man das Leben der Tiere nicht gefährden.

Mit dem Blasrohr, was ich sonst für die Immobilisation von Tieren verwende, konnte ich diesmal nichts anfangen: In dieser Region weht permanent ein starker Wind von der Seite, uns wären unsere fliegenden Spritzen richtiggehend weggeflogen. Zudem kann man dort auch nirgendwo in Deckung gehen.

Anpirschen oder Ansitzen geht also nicht. Also griffen wir zu einer für den Laien wahrscheinlich recht martialisch wirkenden Steinzeit-Methode: Wir fingen sie in hintereinander aufgestellten und 300 Meter langen Netzen. Dazu mussten die Tiere natürlich in die richtige Richtung getrieben werden.

SZ: Klingt nach Stress für die Tiere.

Wiesner: Wir haben uns ja nicht nur der neolithischen Maschen bedient, sondern sie mit modernster Pharma-High-Tech verbunden. Die Tiere bekamen von uns nach dem Einfangen ein sofort wirkendes Beruhigungsmittel und ein Langzeitberuhigungsmittel, das wie eine Art Rosa Brille wirkt und bis zu sieben Tage lang anhält. Damit sollte den Gazellen der Transport erleichtert werden, der ungefähr zehn Stunden lang dauern sollte. Die Medikamente haben sich später als absolut lebensrettend erwiesen.

SZ: Was ist passiert?

Wiesner: Wir hatten das Einfangen wie immer für den frühen Morgen angesetzt, weil es da noch kühler ist. Doch das musste zeitlich nach hinten verschoben werden, weil sintflutartige Regenfälle und Hagelschauer in der Nacht Teile des Zauns in R'Mila weggeschwemmt hatten, und wir befürchten mussten, dass die Tiere aus dem Areal flüchten.

Also konnten wir erst nach der Zaunreparatur am späten Vormittag beginnen. Bei unserem ersten Versuch liefen uns nur fünf Tiere ins Netz, also mussten wir es erneut an einer anderen Stelle versuchen.

Das Ganze zog sich in die Länge: Am Ende hatten wir 18 Tiere, die in einzelnen Transportkisten auf zwei Lkws verladen wurden. Zunächst ging auch alles glatt, die Lastwagen bewältigten die lange Strecke auf der engen und gefährlichen Passstraße über den Atlas problemlos. Doch wenige Kilometer vor dem Ziel wurde ein Lkw beim Überqueren einer Wadi-Furt von einer riesigen Wasserwelle erfasst. Wie ein Kinderspielzeug kippte das tonnenschwere Gefährt einfach auf die rechte Seite in die reißende Flut.

SZ: Und wie ging es weiter?

Wiesner: Der Wagen blieb wie durch ein Wunder auf der Straßenkante der Furt hängen und wurde nicht in die darunter liegenden tieferen Gumpen des Wadi gerissen. Wäre das passiert, wären der Fahrer und die Gazellen ertrunken. Es ging wirklich nur um wenige Zentimeter! Der Fahrer konnte nicht schwimmen und ist in Todesangst aus der Fahrerkabine auf das Dach des Lastwagens geklettert.

Es war ja noch mitten in der Nacht, und die Fluten waren so reißend, dass niemand sich an den Lkw wagen konnte. Die Kisten mit den Tieren schwebten stundenlang über dem Abgrund und niemand wusste, ob sie das überleben werden.

SZ: Im Film geht die Geschichte gut aus - in der Realität auch?

Wiesner: Was der Film nicht zeigt, ist, dass sein Macher, der Redakteur Felix Heidinger, den Fahrer gerettet hat. Aus lauter Angst vor einer neuen Riesenwelle hat er sich ein Seil um den Bauch gebunden und hat sich so gesichert durch die Fluten zu dem Mann gekämpft und den armen Kerl mit festem Griff ans rettende Ufer gebracht. Der Lkw und damit auch die Tiere konnte jedoch erst am Morgen mit dem Nachlassen des Regens geborgen werden.

SZ: Haben die Gazellen den Unfall überlebt?

Wiesner: Wir haben alle nicht mehr daran geglaubt und uns kaum getraut, in die Kisten zu schauen. Aber sie haben es geschafft, sicher auch durch die beruhigenden Medikamente. Trotzdem ist es ein Wunder. Als ich gesehen habe, wie sie ihre Kisten in M'cissi zwar etwas bedröppelt, aber wohlbehalten verlassen, ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen: die Mhorr-Gazellen in ihre Heimat zurückzubringen.

© SZ vom 28.02.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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