Aidsbekämpfung:Ein politisch inkorrekter Erreger

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Mit gnadenloser Härte nutzt das Virus die Schwächen einer Randgruppe oder einer ganzen Gesellschaft aus. So hat Aids die Welt gezwungen, unbequemen Tatsachen ins Auge zu blicken.

Andrian Kreye

Die Krankheit würde viele Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung in Frage stellen - das realisierte die amerikanische Linke schon bald nach dem Ausbruch der Seuche.

Die Hilfsprogramme der US-Regierung zur Aids-Bekämpfung sind noch immer an strenge Auflagen geknüpft - so zum Beispiel die Erziehung zur sexuellen Abstinenz. (Foto: Foto: Reuters)

Plötzlich waren das Verhalten und der Lebenswandel jedes Einzelnen keine Frage der persönlichen Freiheit mehr, sondern Risikofaktoren.

Das stellte besonders das Selbstverständnis der Schwulenbewegung in Frage, aus der die meisten der ersten Opfer kamen.

Im Mai 1983 beschrieb der HIV-infizierte Aktivist Michael Callen das Dilemma gleich im ersten Satz der Broschüre "How To Have Sex in an Epidemic": "Was als sexuelle Freiheit begann, ist heute in den meisten urbanen Zentren zu einer Tyrannei der Geschlechtskrankheiten geworden."

In demselben Text legte Callen auch erstmals die Grundregeln des Safer Sex fest, zu denen vor allem die Benutzung von Kondomen gehörte. Gleichzeitig gab er in Interviews offen zu, im schwulen Nachtleben mit vielen Sexpartnern verkehrt und große Mengen Drogen konsumiert zu haben.

Heftiger Widerstand seitens der Schwulenbewegung

Als Callen und seine Mitstreiter die Broschüre in den schwulen Badehäusern und Nachtclubs von New York verteilten, stießen sie auf heftigen Widerstand.

Callen hatte ein Sakrileg begangen - er hatte das Kausalitätsprinzip über das Ideal der egalitären Gesellschaft gestellt.

Gerade die Schwulenbewegung hatte in den USA immer noch unter Diskriminierung und Verfolgung zu leiden. Ein Schwulenaktivist, der die Verantwortung für seine Erkrankung in seinem eigenen Verhalten fand, schien nur der Verteufelung der Aids-Opfer durch politische und religiöse Konservative Vorschub zu leisten.

Bis zu seinem Tod im Dezember 1993 blieb Michael Callen eisern bei seinem pragmatischen Ansatz. Die Geschichte hat ihm längst Recht gegeben. Nur der unsentimentale, wissenschaftliche Blick auf die Seuche hat bislang zu Lösungen geführt. Jeder Versuch, Rücksicht auf politische oder religiöse Sensibilitäten zu nehmen, hatte verheerende Auswirkungen.

Denn HIV ist ein politisch inkorrektes Virus, das mit gnadenloser Härte die Schwächen einer Randgruppe oder einer ganzen Gesellschaft ausnutzt. Deswegen musste die Promiskuität der schwulen Subkulturen genauso thematisiert werden wie die epidemische Drogensucht in den Elends- und Armenvierteln der amerikanischen Großstädte.

Die afrikanischen Gesellschaften mussten sich eingestehen, dass die Urbanisierung, die nach der Kolonialära als Befreiung und Weg in die Moderne gefeiert wurde, den Zerfall traditioneller Familienstrukturen und eine mobile Promiskuität mit sich gebracht hatte, welche die Ausbreitung der Seuche enorm beschleunigte.

Seit die ersten wirksamen HIV-Therapien auf den Markt kamen, ist das Armutsgefälle zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern so deutlich geworden wie selten zuvor.

Und selbst die gut gemeinten Hilfsprogramme, mit denen die Industrienationen die lebensrettenden Medikamente in die Entwicklungsländer bringen, zeigen zunächst die Strukturschwächen der hilfsbedürftigen Länder.

Das Virus als "gerechte Strafe"

In den Schwellenländern haben vor allem Staaten, die sich auf einen moralischen Anspruch gründen, die Gefahr verkannt. In den islamischen Ländern wurde Aids lange als Problem des säkularen Westens gesehen. Imame aus aller Welt predigten 1994 bei der großen Konferenz fundamentalistischer Bewegungen in Khartum, Aids sei die gerechte Strafe für die Sünden der säkularen Gesellschaft.

Ganz ähnlich argumentierten auch die Vertreter der christlichen Rechten in den USA, allen voran der Senator aus North Carolina Jesse Helms, der lange jede Form von Aidshilfe verhinderte, weil sie unmoralische oder gar illegale Handlungen legitimieren würde.

Inzwischen sind Kausalität und wissenschaftliche Weltsicht zu einem Denkansatz geworden, der die ideologischen Blockaden des 20. Jahrhunderts aufbricht. Naturwissenschaftler haben die Geisteswissenschaften ganz offen herausgefordert. Politiker suchen nach pragmatischen Lösungen für die Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, und weltweit rücken ehemals linksgerichtete Gruppen und Vordenker von der Utopie der egalitären Gesellschaft ab.

Im Kampf gegen Aids haben viele Länder eingelenkt. China nutzt inzwischen seinen massiven Apparat der sozialen Kontrolle zur Aidsvorbeugung, obwohl es sich lange immun gegen die Seuche glaubte, weil es doch eine geschlossene Gesellschaft sei. Tatsächlich ist die Zahl der 650 000 Infizierten bis heute im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden relativ gering.

Doch zugleich führte der Ausbruch der Sars-Epidemie den Parteifunktionären vor Augen, welche dramatischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen eine Seuche haben kann.

Die USA haben im Kampf gegen die Seuche unter George W. Bush sogar eine Führungsrolle übernommen, auch wenn ihre Hilfsprogramme an strenge Auflagen geknüpft sind, etwa eine Erziehung zur sexuellen Abstinenz oder das Verbot von Prostitution.

Sind Kondome mit der katholischen Lehre vereinbar?

Und Papst Benedikt hat im April eine Studie in Auftrag gegeben, die herausfinden soll, ob Kondome nicht doch mit der katholischen Lehre in Einklang zu bringen sind.

In Verhandlungen um eine globale Strategie bei der UN-Generalversammlung in dieser Woche beharrten die USA allerdings weiter darauf, dass die Verteilung sauberer Spritzbestecke kein Teil der Hilfsmaßnahmen sein darf und die Prostitution als illegal betrachtet werden muss.

Die islamischen Länder verlangten gar, dass Homosexualität, Prostitution und Drogensucht nicht einmal Thema der Gespräche sein dürfen. Die Gefahr, dass sich die Seuche in den nächsten Jahren gerade in diesen Ländern ausbreiten wird, liegt auf der Hand.

"Wir können nicht bestehen, wenn wir den Kopf in den Sand stecken", warnte Kofi Annan die Teilnehmer der Diskussion. Mervin Silverman, der beim Ausbruch der Seuche als Gesundheitsbeauftragter der Stadt San Francisco fungierte, drückte es etwas deutlicher aus: "Das ist als ob man gegen die Gefahren der Trunkenheit am Steuer kämpfen wollte und dabei weder Alkohol noch Autos erwähnen dürfte.

(SZ vom 3. Juni 2006)

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