Physiologie:Auf Sparflamme

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Der Winterschlaf der Tiere wirft immer noch viele Rätsel auf. Der Zustand scheint das Leben zu verlängern - und könnte Astronauten bei der Marsmission helfen.

Von Lennart Pyritz

Ortstermin in einem abgedunkelten Labor des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Der Biologe Thomas Ruf weist auf ein Foto, das zwei mausähnliche Nagetiere zeigt, schwarze Gesichtszeichnung von den Schnurrhaaren bis zu den Ohren: "Sie werden lachen: Die sind in Kühlschränken drin. Damit simulieren wir den Winterschlaf-Bau." Es sind Gartenschläfer, Tiere, die in ihren unterirdischen Bauten eine Körpertemperatur von minus ein Grad erreichen", sagt der Winterschlafforscher Ruf - und das ohne körpereigenes Gefrierschutzmittel. "Die sind einfach unterkühlt. Das nennt man Supercooling. Das geht so lange, wie sich kein Eiskristall bildet. Das heißt, man darf die Tiere nicht schütteln, sonst frieren sie durch."

Seit Jahren erforschen Ruf und sein Team, was im Körper von Gartenschläfern geschieht, wenn sie zwischen Oktober und März Winterschlaf halten. Es ist ein noch wenig verstandenes Phänomen, dabei von großer Tragweite - selbst für den Menschen: Der biologische Energiesparmodus könnte von medizinischer Bedeutung sein, vielleicht sogar dabei helfen, Astronauten auf den Mars zu bringen.

Doch bevor es so weit ist, machen die Wiener Biologen Grundlagenforschung an ihren Gartenschläfern. In der Bauchhöhle implantierte Mikrosender registrieren deren Körpertemperatur; Messgeräte zeichnen den Sauerstoffverbrauch der Tiere in den Kühlschränken auf. Dabei haben die Forscher beobachtet, dass die Nagetiere regelmäßig für kurze Zeit erwachen. Einige Wissenschaftler vermuten, dass die Winterschläfer so ihr Immunsystem wecken. Ruf verfolgt eine andere Spur: Ein Protein sorgt dafür, dass das Herz auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt noch schlägt. Dieses spezielle Eiweiß könnte jedoch im Winterschlaf abgebaut werden. Dann müssten die Tiere zu sich kommen, um es neu zu bilden, vermutet Ruf.

Auf den ersten Blick scheint die Sache klar zu sein: Wenn es kalt wird, ziehen sich Gartenschläfer, Bär und Murmeltier zurück, schalten physiologisch auf Sparflamme und halten Winterschlaf. So lässt sich die unwirtliche Jahreszeit mit geringem Energieverbrauch überdauern. Doch bei genauerem Hinschauen ist schon das Wort Winterschlaf irreführend. Denn manche Tiere versetzen sich nicht nur saisonal bei besonderer Kälte in diesen Zustand. Manche Arten schalten auch flexibel für einige Wochen, Tage oder Stunden in den Energiesparmodus. Fledermäuse und Kolibris zählen dazu.

Wissenschaftler nutzen daher einen anderen Begriff für das Phänomen: Torpor - lateinisch für Erstarrung. "Unter Torpor generell verstehen wir in der Wissenschaft eigentlich die Reduktion von allen Stoffwechselvorgängen auf bis zu einem Prozent der Normalwerte", sagt Kathrin Dausmann, Professorin für funktionelle Ökologie an der Universität Hamburg. "Das machen manche Tiere nur kurz, also weniger als 24 Stunden. Da würden wir von Tagestorpor reden."

Der Zustand ist etwas anderes als Winter- oder Kältestarre. In die fallen zum Beispiel Reptilien, deren Körpertemperatur mit der Umwelt schwankt. Torpor zeigen nur Vögel und Säugetiere - Lebewesen, die ihre Temperatur aktiv über innere Stoffwechselwärme regulieren, unter denen aber erstaunlich viele. Bei Säugetieren haben Forscher mittlerweile in mehr als der Hälfte aller Ordnungen Arten entdeckt, die kürzer oder länger in den Energiesparmodus schalten können. Darunter finden sich mit den Maus- und Fettschwanzmakis auch Vertreter der Primaten. Kathrin Dausmann erforscht die Tiere in deren madagassischer Heimat. "Dort ist es im Winter sehr trocken. Eventuell ist es also nicht so sehr der Energiemangel, der bei den Tieren zu diesem Zustand führt, sondern eher der Mangel an Wasser."

Dass Wissenschaftler zunehmend Arten finden, die Torpor zeigen, hängt auch mit dem technischem Fortschritt zusammen. Zu messen, ob und unter welchen Bedingungen ein Tier den Stoffwechsel herunterfährt, erforderte früher eine raumfüllende Apparatur. "Wir haben jetzt Geräte, die wir in eine Metallkiste packen und überall mit ins Feld nehmen können." Dank winziger Temperatur-Logger und tragbarer Sauerstoffmessgeräte können Biologen Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum untersuchen. So erst konnten die Wissenschaftler beobachten, wie flexibel Tiere mit Torpor auf ungünstige Umweltbedingungen reagieren - Trockenheit etwa oder Nahrungsmangel. Und sie entdeckten neue Seiten altbekannter Arten, zum Beispiel der Mausmakis: "Die werden schon seit Jahrzehnten im Labor gehalten, haben aber dort nie Torpor gezeigt. Denn wenn die Tiere gut gefüttert sind und bei einem regelmäßigen Licht-Dunkel-Rhythmus leben, brauchen sie das nicht", sagt Kathrin Dausmann. Doch sind Laborstudien andererseits notwendig, um die physiologischen Prozesse der Erstarrung zu verstehen. Noch kennen Forscher den eigentlichen Auslöser des Torpor nicht. "Wenn wir das Verhalten untersuchen wollen, dann setzen wir die Tiere in die Kammer und müssen warten. Die machen das dann spontan", sagt der Tierphysiologe Gerhard Heldmaier von der Universität Marburg, der sein Berufsleben mit der Erforschung dieses besonderen Zustands verbracht hat.

Immerhin haben Experimente aber inzwischen einiges über die Umgebungsbedingungen verraten, die herrschen müssen, damit Tiere ihren Stoffwechsel herunterfahren. Zwerghamster zeigen das Verhalten nur, wenn die Nächte eine Zeit lang wesentlich länger sind als die Tage. Hausmäuse schalten innerhalb weniger Stunden in den Energiesparmodus, wenn die Umgebungstemperatur plötzlich abgesenkt und ihnen gleichzeitig das Futter weggenommen wird.

Welche Prozesse dabei im Körper der Tiere ablaufen, können Forscher nur bruchstückhaft nachvollziehen. "Es gibt einige Hinweise darauf, dass der Glucose-Stoffwechsel heruntergefahren wird. Da gibt es zwei Enzyme, die als Schaltstellen betrachtet werden", sagt Heldmaier. Eines, mit dem der Tierphysiologe sich intensiv beschäftigt hat, ist die Pyruvatdehydrogenase. An deren Regulation seien wiederum vier andere Enzyme beteiligt, sagt er: "So weit sind wir. Aber wir wissen nicht genau, wie es weitergeht. Wo es dann zu den Hormonen oder zu den neuronalen Signalen geht. Da klafft noch ein Riesenloch."

Die russischen Bauern wachten im Winter nur einmal am Tag auf, um ein Stück Brot zu essen

In jedem Fall wirken sich Torporphasen wiederum auf den Stoffwechsel der Tiere aus - und darüber offenbar auch auf deren Lebensdauer. 2011 wiesen der Wiener Biologe Thomas Ruf und Kollegen in einer Studie nach: Kleine Säugetiere, die in Torpor gehen, werden deutlich älter als vergleichbar große Arten, die das Verhalten nicht zeigen. Bei Siebenschläfern stießen die Forscher auf einen Zusammenhang zwischen Winterschlaf und Telomerlänge, der das Phänomen erklären könnte. Als Telomere werden die Endkappen der Chromosomen bezeichnet, die sich normalerweise mit dem Alter immer mehr verkürzen - auch bei Menschen. Das Team von Ruf nahm Proben aus der Mundschleimhaut von Siebenschläfern, isolierte daraus DNA und bestimmte die Länge der Telomere. "Und wir haben etwas ganz Verrücktes gefunden: In den ersten Lebensjahren nimmt die Länge ab, wie bei allen anderen Tieren. Aber so ab dem fünften Lebensjahr nehmen die Telomerlängen zu. Das hat man bisher noch bei gar keiner Art festgestellt." Wie genau sich diese Besonderheit im Erbgut auswirkt, müssen weitere Studien noch klären.

Umstritten war lange Zeit, ob die Fähigkeit zum Torpor selbst auf speziellen Sequenzen im Erbgut beruht. Dagegen spricht laut dem Marburger Physiologen Heldmaier, dass das Verhalten bei so vielen Säugetieren und Vögeln auftritt. "Die haben keine speziellen Gene für den Winterschlaf. Und es gibt auch keine besonders auffälligen Gene, deren Expression bei Eintritt in den Winterschlaf aktiviert wird." Das Verhalten scheint also uralt und überall präsent zu sein. Aber offenbar können es nicht alle Arten abrufen.

Doch mit den Lemuren zeigen es sogar Vertreter der Primaten - zu denen auch der Mensch zählt. Sollte es möglich sein, dass die Fähigkeit auch in uns schlummert? Hinweise darauf gibt es jedenfalls in der wissenschaftlichen Literatur. Im Jahr 1900 berichtete das British Medical Journal über "winterschlafende" Menschen im Nordwesten Russlands: Bauern, die sich in den langen, kalten Wintern um ein Feuer versammelten, in eine Art Trance verfielen und nur einmal am Tag aufwachten, um ein trockenes Stück Brot zu essen.

Noch deutlichere Hinweise, dass auch der Mensch in Extremlagen in Torpor fallen könnte, liefern Geschichten von Unfallopfern. So brach eine norwegische Ärztin bei einem Winterausflug durch die Eisdecke eines Gewässers. Obwohl sie erst nach einer halben Stunde geborgen werden konnte, wurde sie wieder vollständig gesund. "Da muss der Stoffwechsel abgeschaltet worden sein, sodass sie keinen Sauerstoff mehr brauchte", sagt Gerhard Heldmaier und vermutet, dass die Frau in einen Torpor-Zustand gefallen ist.

Um nicht nur auf Anekdoten und Einzelbeobachtungen angewiesen zu sein, gründete der Marburger Physiologe vor drei Jahren eine Arbeitsgruppe bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa. Das Ziel: Die Grundlagenforschung bündeln, um den Torpor-Zustand besser zu verstehen - um irgendwann einmal vielleicht auch Astronauten gezielt auf Sparflamme zu schalten. Dadurch könnte nicht nur der Transport gemütlicher werden. Auch die Energieersparnis wäre von großem Vorteil. "Also wenn man's vom Bären überträgt: Der spart etwa 75 Prozent Energie ein im Winterschlaf." Bei einem monatelangen Flug zum Mars müssten die Raumfahrtagenturen dann sehr viel weniger Sauerstoff, Wasser und Nahrungsmittel einplanen.

Menschen in den Energiesparmodus zu versetzen, weckt auch bei Medizinern Hoffnung. So könnten zum Beispiel Schwerverletzte geschont werden, bis die Notaufnahme erreicht ist. Alexander Choukèr, Anästhesist an der Universität München, ist Mitglied der Esa-Gruppe. Er forscht zur Präkonditionierung von Organen. Dabei wird beispielsweise die Leber vor einer Operation für zehn Minuten vom Blutkreislauf abgeklemmt. Der Versorgungsmangel aktiviert im Körper des Patienten Prozesse, durch die das Organ seinen Energieumsatz drosselt. In diesem Zustand übersteht es die lange Durchblutungsstörung während der OP besser. "Letztendlich ist es eine ähnliche Anpassung. Ein Organismus im Torpor möchte eine kritische Phase überleben, ohne dass er Energie verbraucht. Und diese Reduktion des Stoffwechsels ist so etwas Ähnliches, was wir in einem präkonditionierten Organ erleben", sagt der Anästhesist.

Als die Erdhörnchen im Frühjahr aufwachten, hatten sie den Weg durch das Labyrinth vergessen

Der medizinische Blick auf Stoffwechselvorgänge in einem Organ könnte so neue Einsichten zum Torpor bei Tieren liefern - und umgekehrt. "Kontrolle über den Stoffwechsel ist eigentlich Kontrolle über das Leben der Zelle und dann des gesamten Organismus", sagt Choukèr. Wie sich der Energiesparmodus für Verletzte und Astronauten in Zukunft künstlich auslösen ließe, steht aber noch in den Sternen.

Die Nasa hat in der Vergangenheit viel Geld in die Erforschung von Kühlkammern für Astronauten investiert. Auch die US Army förderte Projekte dazu, wie verwundete Soldaten heruntergekühlt von der Front ins Krankenhaus transportiert werden könnten. Physiologe Heldmaier hält diesen Ansatz aber für den falschen Weg, weil bei Körpertemperaturen unterhalb von 30 Grad Celsius Kammerflimmern auftritt. "Das ist eine sehr kritische Geschichte beim Menschen." Das Entscheidende beim Torpor sei das Drosseln des Stoffwechsels, in dessen Folge sich der Körper abkühlen könne, nicht umgekehrt.

So vielversprechend die Idee auch klingt, noch ist sie Utopie. Außerdem könne Torpor auch negative Begleiterscheinungen haben, warnt Thomas Ruf. Vielleicht erginge es den Raumfahrern in den Tiefen des Alls wie den Zieseln im Labor einer Kollegin. Die hatte die Erdhörnchen trainiert, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden. Anschließend durfte ein Teil der Tiere wie gewohnt Winterschlaf halten, der andere nicht. Erstere hatten nach dem Aufwachen im Frühjahr alles vergessen. Die Tiere, die nicht Winterschlaf halten konnten, fanden dagegen weiter ihren Weg durchs Labyrinth. "Übertragen auf die Raumfahrt hieße das: Man läuft Gefahr, wenn man Astronauten in Winterschlaf versetzt, dass sie zwar mit wenig Sauerstoffverbrauch am Mars ankommen - aber nicht mehr wissen, was sie da sollten."

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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