Zehn Thesen für ein demokratisches Internet:Weniger Freiheit, mehr Geheimnis

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Das Internet schaffe die totale Überwachung und fördere die Herrschaft des Mobs, warnen Kritiker wie Andrew Keen. Zehn Thesen, wie das Netz doch noch helfen kann, Demokratie zu verbreiten.

Von Alexandra Borchardt

In den Diskussionen um Islamismus und Pegida wird eines wieder sehr deutlich: Das Internet ermöglicht zuweilen mehr Freiheit, als die Demokratie vertragen kann. Denn die Freiheit des einen hört immer dort auf, wo sie mit der Freiheit des anderen kollidiert. Der britisch-amerikanische Internet-Kritiker Andrew Keen, im Silicon Valley sozialisiert, widmet sich dem Thema Internet und Freiheit in seinem neuen Buch. Und er beantwortet die Frage, ob die digitale Welt mehr oder weniger Demokratie schaffe, praktisch schon im Titel. "The Internet Is Not the Answer" lautet dieser, am kommenden Montag erscheint es als "Das digitale Debakel" auf deutsch (Random House). Das Internet vernichte die Mittelschicht und etabliere eine Art Plutokratie, es schaffe Monopole, totale Überwachung und statt Demokratie fördere es die Herrschaft des Mobs, schreibt Keen.

Die Repräsentanten der Monopole sind nicht gewählt

Aber man muss anders fragen, denn das Netz per se ist neutral. Die Frage muss eher lauten: Wie schaffen es offene Gesellschaften, mithilfe des Netzes die Demokratie zu stärken? Oder werden die Menschen künftig vor allem getrieben von mächtigen Staaten und Konzernen, die das Netz dafür nutzen, Regeln zu brechen, Rechte zu beugen und so die Demokratie zu schwächen? Man kann das, was Keen beschreibt, um viele Erkenntnisse aus Forschung und Erfahrung erweitern. Daraus ergeben sich zehn Thesen dazu, wie die Möglichkeiten des Netzes mit der Demokratie kollidieren. 

1. Das Netz schwächt Institutionen, die Demokratie braucht starke Institutionen .

Das Netz ermöglicht es jedem, Behauptungen in die Welt zu setzen. Institutionen haben es deshalb schwer, ihre Botschaften zu kontrollieren. Wer früher mächtig war, muss sich heute den Bewertungen der früher Ohnmächtigen stellen, das erleben Unternehmen, Behörden, Politiker, Ärzte und Journalisten. Aber die Demokratie braucht starke Institutionen. Sie handeln und sie tragen die Verantwortung dafür. Institutionen müssen sich öffnen. Aber sie müssen auch stolz ihre Botschaft vertreten.

2. Im Netz gilt das Recht der Vielen. Zur Demokratie gehört der Rechtsstaat. Der schützt die Rechte der Schwachen. 

Im Netz gibt es viele Richter, Urteile sind schnell gefällt - und bleiben haften. Das ist weniger schlimm, wenn Lautsprecher oder Hotels bewertet werden, kann aber dramatisch sein, wenn es Menschen trifft. Den Rechtsstaat darf die Mehrheit nicht interessieren: Er schützt die Unbequemen, sogar den Mörder, die Würde des Menschen. Grundlage der Demokratie ist Gewaltenteilung. Die gibt es im Netz nicht.

3. Das Netz bietet die Freiheit, Regeln zu umgehen. Aber Demokratie lebt von Regeln.

Deutlich wird dieser Konflikt an der Sharing Economy. Sie ist wirtschaftlich auch so erfolgreich, weil sie auf Ausbeutung und Regelbruch setzt. Demokratisch erkämpfte Standards, zum Beispiel des Arbeits- und Umweltschutzes, werden ausgehebelt. Deshalb ist es richtig, auch sie zu regulieren. Regulierung ist Demokratie.

4. Das Netz kann Grenzen überwinden, aber Demokratie ist territorial begründet.

Ein großes Versprechen des Netzes war die Grenzenlosigkeit. Aber mittlerweile nutzen Autokraten und Diktatoren die digitalen Möglichkeiten genauso für ihre Zwecke wie jene, die Demokratie verbreiten wollen. Es ist eine bittere Wahrheit: Demokratie muss von Völkern oder Gemeinwesen erkämpft, gepflegt und verteidigt werden, sie kommt nicht über Google oder Facebook. Demokratie ist kein Grundbedürfnis aller, denn sie vernichtet Privilegien. Jede Demokratie muss für sich entscheiden, was ihre Standards sind.

5. Die starken Akteure im Netz sind Konzerne. Die starken Akteure in der Demokratie sind politisch gewählt.

In der Demokratie ist das Volk der Souverän, vertreten durch gewählte Repräsentanten. Was passiert aber, wenn Konzerne viel mächtiger und schneller sind als die Politik? Die starken Akteure, die das Leben der Menschen zunehmend prägen, sind allesamt privat, überwiegend amerikanisch und tendieren zu Monopolen. Ihre Repräsentanten sind nicht gewählt, sie handeln technologiegetrieben, nicht wertegetrieben. Demokratie lebt aber von Werten.

6. Das Netz belohnt jene, die am lautesten sind. Demokratie lebt von Repräsentation und gleichem Zugang für alle.

"One person, one vote" - das ist wohl der wichtigste Grundsatz in demokratischen Gesellschaften. Nicht die mit den meisten Followern regieren, nicht die mit den drastischsten Kampagnen. Und es gilt das Prinzip der Repräsentation. Das Netz ist ein gutes Vehikel für politische Beteiligung, aber sie muss, wenn es um Entscheidungen geht, sicher und fair sein wie im Wahllokal.

7. Das Netz fördert Clicktivism und Anonymität, Demokratie braucht Arbeit und Verantwortung.

Politik macht Arbeit. In der Demokratie übernehmen Volksvertreter diese Arbeit, damit die anderen Bürger anderes tun können. Und sie tragen die Verantwortung. Beteiligung im Netz ist geprägt von einer Klick-und-weg-Mentalität. Und der Klickende kann anonym bleiben.

8. Im Netz gibt es eine Explosion der Information und viele Nischen. Demokratie braucht einen Informationsraum.

"Information ohne Wächter ist fast immer inakkurat, korrupt oder beides", schreibt Keen, und das Netz sei voll davon. Jeder findet Gleichgesinnte für jede radikale Position oder jedes noch so absurde Interesse, Algorithmen verstärken diese Wirkung als Filter. Die Demokratie lebt aber von der Debatte, von Vielfalt und Kompromissen. Und von wahren Informationen.

9. Das Netz begünstigt die Genialen, die Rücksichtslosen, die Privilegierten, Demokratie begünstigt das Mittelmaß.

In der Netzwirtschaft würden die Gewinner alles bekommen, das ist eine von Keens Hauptthesen. Am Ende fehle die Mittelschicht - wie bei einem Donut die Mitte. Die Elite aus dem Silicon Valley bade in obszönem Reichtum, während Facharbeiterjobs verschwänden. Ein Grund ist das Do-it-yourself im Netz: Bürger übernehmen Arbeiten, für die man früher Fachleute brauchte. In der Mittelschicht finden sich aber die verlässlichsten Demokraten.

10. Das Netz fördert Transparenz. Demokratie braucht Diplomatie, das Geheimnis.

Das Netz fördert Transparenz. Prinzipiell ist das gut. Aber wenn Transparenz zu weit geht, begünstigt das Hetze und Intoleranz. Und wenn Daten das Verhalten von Menschen abbilden, wird der Bürger zum ökonomischen Objekt. Privatsphäre ist aber ein Bürgerrecht, die Menschenwürde in der Demokratie unantastbar. Nicht jeder muss alles wissen, weder der Staat noch Unternehmen noch der Nachbar. Demokratie braucht außerdem Diplomatie, und die lebt von Verschwiegenheit.

Was tun? Natürlich kann das Netz demokratische Beteiligung stärken, aber nur mit Regeln und einer Ethik der Verantwortung; Letztere fordert Keen. Man muss die Entwicklung der Netzpolitik betrachten wie jene der Umweltpolitik. Bevor es die gab, galten Luft, Wasser, Boden als freie Güter, die man sich nehmen und die man unbeschränkt nutzen konnte. Dann wurde klar: Wird so weitergemacht, ruiniert das die Grundlagen menschlicher Existenz. Also wurden Schranken gesetzt, die Umweltbildung erhöht, neue Produkte entwickelt. Wenn man das Netz nicht reguliert, gefährdet das die Grundlagen der Freiheit: die Menschenrechte, den Respekt voreinander.

Damit das Netz die Demokratie stärkt, braucht es Regeln, und Regeln schränken Freiheit ein. Aber Demokratie heißt immer eingeschränkte Freiheit - für die Mächtigen und für die Schwachen gleichermaßen. Die unbegrenzte Freiheit der Starken, der Institutionen, ist Diktatur. Die unbegrenzte Freiheit der Schwachen ist Anarchie.

© SZ vom 15.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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