Wohlstand: Weg vom BIP:Einfach besser leben

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Seit der Studie des Club of Rome von 1972 haben Wachstumszweifel in Deutschland Konjunktur - erneut versuchen nun Kapitalismuskritiker, den Verzicht als Gewinn zu definieren.

Johan Schloemann

Wenn die Leistung der Wirtschaft schrumpft und wenn zugleich das allgemeine Bewusstsein dafür wächst, dass bedenkenloses Wirtschaften die natürlichen Grundlagen der Menschheit zerstört - dann wird in den reicheren Ländern die Frage beliebt, ob es nicht auch ganz gut ohne Wachstum ginge. Nichtmaterielle Werte werden beschworen, Zweifel kommen auf am Diktat der Messbarkeit von Wohlstand und Glück durch ökonomische Daten. So geschieht es jetzt in der Rezession in Folge der Finanzkrise, begleitet von wachsendem Zweifel innerhalb und außerhalb der Wirtschaftswissenschaften, ob ökonomisches Handeln überhaupt nur rationalen, bezifferbaren Maßstäben folgt. "Weiche" Faktoren werden also wichtiger.

Die Ursprünge solcher Debatten liegen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Club of Rome rief 1972 die "Grenzen des Wachstums" aus, es folgten die Ölkrise des Jahres 1973 und die Wachstumsdelle 1974/75. Für viele war es ein Schock, erstmals den Preis des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts erkennen zu müssen: Umweltverschmutzung, ja sogar "Wachstumstod". Auf diesen Schock wurde damals in der Bundesrepublik auf zweierlei Weisen reagiert, die beide einem christlich-theologischen Impuls entstammten: mit der Aussicht auf die Apokalypse einerseits und derjenigen auf das Paradies andererseits.

Die Apokalyptiker sagten geradezu sehnsüchtig den Untergang voraus und formierten sich zu einer düsteren Priesterschaft des Atomtods und des Waldsterbens; die Vertreter des Paradieses auf Erden entwarfen ein Idealbild von gerechter Verteilung weltweit, von Bescheidenheit und Genügsamkeit, von einem Glück, das ohne unmäßige Verzehrung der materiellen Ressourcen möglich wäre, von Zufriedenheit im Verzicht. Mit der westlichen Wachstumsideologie sollten zugleich auch die Zwänge der Zivilisation abgestreift werden, ähnlich wie es schon die deutschen Naturbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewollt hatten. Auf diese Gemengelage der siebziger Jahre geht es zurück, dass Deutschland eine eigene Partei für Wachstumszweifel hat: die Grünen.

Krise zur Neubesinnung nutzen

Heute nun wiederholt sich dieser Wachstumszweifel, wenn auch auf nüchternere, weniger pathetische Art. Nachdem üppiges Wachstum in den etablierten Industriestaaten nur noch durch künstliche Blasen erreichbar zu sein scheint, und nachdem es über die Bedrohung durch die Klimaveränderungen wenigstens im Denken allgemeinen Konsens gibt, fragen Ökonomen und andere Wissenschaftler: Muss der Erfolg eines Landes, muss das gute Leben nicht anders bestimmt werden als durch die Zunahme des Bruttosozialprodukts? Etwa durch Faktoren wie soziale Stabilität, ökologische Nachhaltigkeit und Zufriedenheit im Zusammenleben? Also durch das "Bruttosozialglück", wie es der buddhistische Himalaya-Staat Bhutan als Maßstab eingeführt hat?

Der jüngste Vorstoß in dieser Richtung in Deutschland stammt von den Essener Politologen und Soziologen Claus Leggewie und Harald Welzer. In ihrem gerade erschienenen Buch "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten" greifen Leggewie und Welzer den "frivolen Zukunftsverbrauch der kapitalistischen Wachstumsökonomie" an. Die Finanzkrise müsse auch zur Neubesinnung über die Indikatoren des Wohlstands genutzt werden; "Verzicht als Gewinn" zugunsten der Umwelt sei das Gebot der Stunde. Die beiden Forscher sind überzeugt, "dass Wachstumsziffern per se keine Aussagekraft haben - jedenfalls sagen sie nichts darüber, ob das Leben besser wird". Allerdings bleiben die demokratischen Anstrengungen, die Claus Leggewie und Harald Welzer zur Überwindung des Wachstumsdenkens fordern, eher diffus. Die Betonung "weicherer" Faktoren anstelle von Geld und Wachstum droht auf eine Tautologie hinauszulaufen: Nur wenn die Menschen auf Wohlstand verzichten, kann der Verzicht auf Wohlstand gelingen ...

Wenig Hoffnung auf Gehör können sich die wachstumsskeptischen Stimmen jedenfalls im gegenwärtigen Wahlkampf machen. Angela Merkel sagt, nur mit Wachstum könne Deutschland seine Schulden verringern, und Frank-Walter Steinmeier findet, Deutschland müsse "ein starkes Industrieland bleiben", das mit Wachstum seinen Wohlstand sichert. Und trotzdem wollen beide natürlich alles für den Klimaschutz tun. Die ehrlichere Variante stammt von Altkanzler Helmut Schmidt, der im Mai auf dem Bremer Kirchentag sagte: Um sich vom Wachstum zu lösen, "müsste es echte Opfer geben. Das will aber keiner hier."

© SZ vom 16.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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