Wirtschaftspolitik:Das israelische Wunder

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Israel schreibt seit einigen Jahren viele Erfolgsgeschichten. Dabei steckte das Land noch in den neunziger Jahren tief im ökonomischen Schlamassel.

Peter Münch

Im Heiligen Land hat man über die Jahrtausende eine gewisse Erfahrung mit Wundern gesammelt, und so wird auch das jüngste Kapitel in der Geschichte des weltweit bestaunten "israelischen Wirtschaftswunders" mit geschäftsmäßiger Gelassenheit registriert. Für 3,6 Milliarden Euro kauft der israelische Teva-Konzern das Ulmer Unternehmen Ratiopharm - na und? Die ehemalige Drogeriekette war ohnehin schon Weltmarktführer bei Nachahmer-Medikamenten, den sogenannten Generika. Und erst vor zwei Jahren hatte die Firma fast doppelt so viel in den USA investiert. Was gibt es sonst Neues?

Israels Wirtschaft schreibt seit einigen Jahren so viele Erfolgsgeschichten, dass das Wunder dahinter fast schon zur Alltagserfahrung geworden ist. Dabei steckte das von den Gründervätern sozialistisch geprägte Land noch in den neunziger Jahren tief im ökonomischen Schlamassel, und die Rahmenbedingungen könnten ohnehin verheerender kaum sein: Israel ist von Feinden umzingelt, die Kriegsgefahr ist ständig präsent. Das Militär prägt die Gesellschaft, die hohen Ausgaben für Verteidigung lasten schwer auf dem Haushalt, und dass der jüdische Staat über keinerlei nennenswerte Rohstoffe verfügt, erscheint da fast noch als das geringste Problem.

Mit einigem Recht jedenfalls konnte einst Milton Friedman spotten, dass Israel alle Vorurteile über die Juden - dass sie gute Köche seien, gute Kaufleute und schlechte Soldaten - widerlege. Der jüdische Ökonom ist mit diesem Bonmot oft zitiert worden. Doch dann haben die Israelis den Nobelpreisträger und die Welt eines Besseren belehrt. Vielleicht nicht unbedingt am Herd, schon gar auf dem Feld, aber ganz gewiss in der Wirtschaft.

Ein paar Fakten zum Wundern: In der Nationenwertung der elektronischen US-Börse Nasdaq liegt Israel auf dem zweiten Platz; nur die USA haben hier mehr Unternehmen gelistet. Das kleine Israel mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern zieht auch mehr Wagniskapital an als Deutschland und Frankreich zusammen. Im sogenannten "Silicon Wadi" zwischen Tel Aviv und Haifa gibt es Tausende Startups, und alle großen Firmen von Intel über Google bis Siemens investieren dort inzwischen viele Milliarden Dollar und Euro.

Kein Wunder also, dass Israel weit besser aus der globalen Wirtschaftskrise gekommen ist als die meisten Länder des Westens. Selbst im Katastrophenjahr 2009, wo die Wirtschaft überall schrumpfte, wuchs Israels Wirtschaft noch um ein halbes Prozent. 2010 soll Israels Aufnahme in die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, gefeiert werden - mit einer Wachstumsrate von mindestens 3,5 Prozent.

Vom Himmel gefallen ist all das natürlich nicht, und wer will, kann den Erfolg aus schlichten Zahlen ableiten: Israel pumpt jährlich vier bis fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung, mehr als jedes andere Land. 20 Prozent der Arbeitskräfte haben einen Universitätsabschluss, und auf 10.000 Einwohner kommen 135 Ingenieure - auch das ist Weltrekord, in Deutschland sind es zum Beispiel nur 80.

Doch Zahlen allein reichen nicht aus für ein Wunder - es geht um den Geist dahinter, um die Brutstätte der Ideen, um die Mentalität. Und hier zeigt sich, dass Israel aus seinen Schwächen eine Stärke gemacht hat. Denn der Mangel an Rohstoffen und der Mangel an Sicherheit hat sich addiert zu einem Zwang zur Innovation. Der Reichtum muss aus den Köpfen kommen, und dazu braucht es Risikobereitschaft, die aus dem militärischen Fundament der Gesellschaft erwächst. Ganz abgesehen davon werden in der jahrelangen Armeezeit, die alle jungen Männer und Frauen ableisten müssen, die Netzwerke geknüpft, die später in Politik und Wirtschaft wichtig werden.

Entscheidend ist überdies, dass Israels Gesellschaft sich ständig selbst erneuert. Der jüdische Staat ist auf Immigranten angewiesen, beharrlich wirbt er um die Diaspora, und wer kommt, ist meist gut ausgebildet und hochmotiviert. Bestes Beispiel dafür sind die mehr als eine Million Russen, die in den neunziger Jahren ins Land strömten und es auch veränderten. So entsteht eine Kultur, die Verkrustungen gar nicht erst zulässt.

Doch nicht jeder kommt mit bei dem rasanten Tempo des Aufbruchs, und nicht jeder will hier auch mitkommen. Ein Fünftel der Gesellschaft lebt unterhalb der Armutsgrenze, vor allem sind dies israelische Araber und ultra-orthodoxe Juden. Bisweilen prallt auch Israels religiöse Identität hart auf Israels wirtschaftliche Realität.

"Sabbat-Krieg" nennt man das, was in diesem Winter zum Beispiel vor dem Jerusalemer Sitz des Chip-Herstellers Intel eskalierte. Tausende Ultra-Orthodoxe demonstrierten zum Teil gewalttätig vor der Firmenzentrale gegen die Produktion am jüdischen Ruhetag. Das Unternehmen, das landesweit 6500 Menschen beschäftigt, drohte sogar mit einem Rückzug aus Israel, bis schließlich ein Kompromiss gefunden wurde.

Ohne Widersprüche also ist das israelische Wunder nicht, doch jeder Fortschritt lebt vom Widerspruch und dem Willen, ihn zu überwinden. Die Israelis haben das nicht zuletzt von Theodor Herzl gelernt, dem Begründer ihrer modernen Staatsidee. In diesem Jahr wird sein 150. Geburtstag gefeiert, und überall wird er zitiert. "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen", hatte Herzl gesagt. Heute ist in Israel eine Stadt nach ihm benannt. Herzlija ist das Zentrum der High-Tech-Industrie.

© SZ vom 20./21.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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