Kommentar:Anwesenheit ist Pflicht

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Der frühere Wirecard-Chef Markus Braun will nicht persönlich vor einem Ausschuss des Bundestages aussagen. Das ist eine Ohrfeige für alle Anleger, die ihr Geld verloren haben. Darauf gibt es nur eine richtige Antwort.

Von Cerstin Gammelin

Nach acht Monaten Corona weiß man, dass digital vieles geht, aber keineswegs alles. Erst direkte Nähe macht Arbeitsgruppen kreativ, Gespräche persönlich, Nachforschungen effizient. Völlig logisch also, dass der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags im komplizierten Betrugsskandal von Wirecard seine Zeugen persönlich befragen will und dazu drei frühere Ex-Manager nach Berlin gebeten hat, darunter Ex-Chef Markus Braun. Dessen Anwalt teilt nun mit, man werde gegen den Bundestag gerichtlich vorgehen, sollte dieser darauf bestehen. Braun gegen den Bundestag - was für eine Chuzpe.

Für den Chef eines Dax-Konzerns, dessen Tun schlussendlich mit dazu geführt hat, dass Zehntausende Anleger bis zu 20 Milliarden Euro insgesamt verloren haben, ist es ganz und gar unwürdig, sich hinter der Pandemie zu verstecken, um nicht persönlich aussagen zu müssen. Sein Anwalt trägt dick auf: er warnt vor unvertretbaren Gesundheitsrisiken, Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt seien gefährdet, mutmaßliche Menschenansammlungen im Bundestag der Ansteckung förderlich. Der Plan der Abgeordneten, den in U-Haft sitzenden Markus Braun persönlich sprechen und deshalb diesen Gefährdungen aussetzen zu wollen, erscheint demnach geradezu anmaßend.

Die Abgeordneten sollten dennoch daran festhalten, unter allen Umständen. Damit keine Missverständnisse entstehen: natürlich muss ein Untersuchungshäftling, der aus Bayern nach Berlin verschubt wird, so der Fachbegriff, bestmöglich geschützt werden vor jedweden Risiken. Aber zu insinuieren, dass es der beste Schutz wäre, Braun überhaupt nicht in den Bundestag zu bringen, sondern per Video zu befragen, was ja überhaupt gängige Praxis sei mittlerweile, ist nicht nur frech, sondern auch schlecht argumentiert.

Die Drohungen der Anwälte sind überzogen

Den Anwälten des Markus Braun ist offensichtlich entgangen, dass jeden Tag Millionen Menschen aus dem Haus gehen, weil sie Aufgaben zu erfüllen haben. Sie arbeiten in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Supermärkten, in Bussen und Bahnen, bei der Polizei und in Parlamenten. Diese Menschen schützen sich und andere, sie bauen darauf, dass sich die meisten umsichtig verhalten. Und da soll es nicht möglich sein, einen hygienegerechten Gefangenentransport über 500 Kilometer zu absolvieren, eine Nacht in einer Berliner JVA zu verbringen und in einem Saal im Bundestag auszusagen, der hygienisch einwandfrei ist und in dem auch andere Zeugen aussagen? Wohl kaum. Knickte der U-Ausschuss jetzt schon ein, könnte er eigentlich auch gleich dicht machen.

Die Drohung der Anwälte, gerichtlich gegen den Bundestag vorgehen zu wollen, darf die Abgeordneten nicht schrecken. Besser wäre es, sie als Aufforderung zu begreifen, sich mit klugen Gegenargumenten zu wappnen. Um es noch einmal klar zu sagen: Sicher kann man heutzutage locker per Video kommunizieren. Aber das ersetzt nicht eine Vernehmung von Angesicht zu Angesicht, dieses sich in die Augen blicken, die knisternde Atmosphäre in einem Saal. Markus Braun ist ja nicht irgendein Zeuge. Er ist einer der wichtigsten Zeugen. Er kann aufklären, wie das Geschäft bei Wirecard gelaufen ist, wer in Berlin und Bayern und anderswo lobbyiert hat, wie eng das Netz der Lobbyisten geknüpft war.

Hinzu kommt, dass selbst das persönliche Erscheinen von Braun allein noch keinen Wissenszuwachs garantiert. Die Befragung ist ein Unterfangen mit Fragezeichen, weil Braun das Recht hat, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst zu belasten. Und trotzdem wäre es ein gutes Zeichen, wenn sich der einstige Chef des Zahlungsdienstleisters seiner Verantwortung stellte. Dass er sich bislang weigert, das Kreuz durchzudrücken, lässt seine Rolle in dem Betrugsskandal noch unredlicher erscheinen. Es ähnelt einer Ohrfeige für all diejenigen, die sich redlich um Aufklärung bemühen und diejenigen, die dem Unternehmen Wirecard vertraut - und ihr Erspartes verloren haben.

Vereinzelt hört man die Warnung, das Ergebnis der persönlichen Befragung werde in keinem angemessenen Verhältnis zu den Kosten stehen. Sicher, billig ist es nicht, drei unabhängige Transporte zu organisieren, die nicht nur hygienisch, sondern vollumfänglich sicher sind. Andererseits gilt aber auch: Aufklärung gibt es nicht zum Nulltarif.

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