Industrie und Verkehr:Das Element, das Öl und Kohle ersetzen soll

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Katherina Reiche ist Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates und Chefin des Versorgers Westenergie. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Grüner Wasserstoff ist zum Hoffnungsträger von Politik und Investoren aufgestiegen. Die Chefin des neuen Beratungsgremiums der Bundesregierung erklärt, welche Branchen den Energieträger als Erste nutzen sollten - und welche besser nicht.

Von Benedikt Müller-Arnold, Düsseldorf

An der Börse herrscht schon Euphorie: Firmen wie Nel aus Norwegen oder ITM Power aus England, die Anlagen und Tankstellen für Wasserstoff verkaufen, haben 2020 stark an Wert gewonnen. Denn mit viel Ökostrom erzeugter Wasserstoff soll künftig in mehreren Wirtschaftszweigen klimaschädliche Energieträger wie Erdöl oder Kohle ersetzen. Das Fachwort lautet Dekarbonisierung: raus aus Kohlenstoffen.

Auch Deutschland will Wasserstofftechnologien in den nächsten Jahren per Anschubfinanzierung mit bis zu neun Milliarden Euro unterstützen. Das hat die Bundesregierung im Sommer beschlossen - und zugleich einen Nationalen Wasserstoffrat mit Wissenschaftlerinnen, Managern und Klimaschützerinnen einberufen. Sie sollen den Bund beraten.

Vorsitzende des Gremiums ist Katherina Reiche. "Für die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft brauchen wir Wasserstoff", sagt die 47-Jährige, im Hauptberuf Chefin des Versorgers Westenergie, der Strom- und Gasnetze im Westen der Republik betreibt. "Nicht jeder Prozess in der Industrie und im Verkehr lässt sich sinnvoll elektrifizieren." Obendrein benötige Deutschland Wasserstoff als Energiespeicher: für den Ausgleich zwischen Zeiten mit viel und mit wenig Wind- und Sonnenstrom. "Alternative Technologien wie Batterien oder Pumpspeicherkraftwerke werden das allein nicht schaffen", sagt sie.

Weder Deutschland noch Europa werden allein genug grünen Wasserstoff produzieren können, prognostiziert Reiche

Wasserstoff ist zwar an sich nichts Neues. Deutschland braucht derzeit etwa 55 Terawattstunden (TWh) pro Jahr, zum Beispiel in Chemiefabriken oder Raffinerien. Allerdings wird das H₂ bislang vor allem klimaschädlich aus Erdgas produziert. Doch bis 2030, so erwartet der Bund, könnte sich der Bedarf verdoppeln. Gleichzeitig will Deutschland etwa 14 TWh Produktionskapazität für grünen Wasserstoff aufbauen, der mit viel Ökostrom aus Wasser gewonnen wird. "Da klafft also schon heute eine Lücke", sagt Reiche. "Deutschland wird alleine nicht genug grünen Wasserstoff herstellen können."

Der Bund plant daher Auslandspartnerschaften. In Europa bringen sich schon verschiedene Staaten für den Export in Position. "Doch diese Länder werden ihre Wirtschaft auch selbst dekarbonisieren müssen", konstatiert Reiche. "Wir müssen also über Energiepartnerschaften rund um den Globus sprechen. Aus Nordafrika zum Beispiel könnte man Wasserstoff auch über Pipelines importieren." Wichtig sei freilich: gesellschaftliche Stabilität in den Exportländern. "Das haben nicht zuletzt die Erfahrungen um das Projekt Desertec gezeigt." Diese Initiative, Solarstrom aus der Wüste nach Europa zu bringen, hat bislang kaum gefruchtet.

Reiche sieht diese Abhängigkeit von Importen zwar recht entspannt: "Deutschland hat schon immer große Teile seines Energiebedarfs importiert", sagt die Chemikerin, verweist etwa auf Öl oder Erdgas. "Aber Deutschland hat auch selbst großes Potenzial in der entstehenden Wasserstoffwirtschaft, und das sollten wir auch nutzen." Denn wer technologisch führend sein will, sollte Erfahrungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette sammeln, wirbt Reiche. Beispielsweise planen die Energiekonzerne RWE und Uniper erste Erzeugungsanlagen in Norddeutschland.

Industrie und Laster, Schiffe und Flugzeuge sollten grünen Wasserstoff als Erste verwenden, rät das Gremium

Doch solange der grüne Energieträger knapp ist, diskutiert der Wasserstoffrat auch, welche Branchen ihn zuerst verwenden sollten - und welche nicht. "Die größten und ersten Bedarfe sehen wir in Industrien wie Stahl oder Chemie, im Schwerlastverkehr, in der Schifffahrt und Luftfahrt", sagt Reiche. Denn dort funktionierten elektrische Lösungen absehbar nicht. "Im Stadtverkehr und auf kurzen Strecken dürften sich hingegen Elektroautos durchsetzen."

Damit der Energieträger von den Elektrolyseuren zu den Anwendern kommt, plädiert der Wasserstoffrat dafür, einen Teil der bereits vorhandenen Fern-Erdgasleitungen umzuwidmen. "Schon heute laufen über weite Strecken oft zwei oder drei Gasleitungen parallel", sagt Reiche. Betreiber solcher Leitungen sähen den Wasserstofftransport denn am liebsten auch aus den allgemeinen Gasnetzentgelten mitfinanziert. Dies lehnt der Bund aber bislang, zumindest als dauerhafte Lösung, ab.

Die skizzierte Reihenfolge bedeutet auch, dass grüner Wasserstoff zunächst nicht im großen Stil in Reiches Kerngeschäft zum Einsatz käme: in lokalen Verteilnetzen, die etwa Erdgas in die Häuser bringen. Zwar verursachen Heizungen gut ein Drittel aller CO₂-Emissionen in Deutschland. "Da bleibt noch viel zu tun", konstatiert Reiche. Zwar werden in Zukunft auch deutlich mehr Häuser mit ökostrombetriebenen Wärmepumpen statt mit Gas heizen. Die Westenergie-Chefin verweist jedoch auf viele große, unsanierte Häuser. "Alle Gebäudetypen mit Wärmepumpen nachzurüsten, ergibt energetisch keinen Sinn", so Reiche. "Deshalb brauchen wir langfristig auch grünen Wasserstoff für klimaneutrale Wärme."

Im Wasserstoffrat gehe es "nicht ganz so kontrovers" zu wie einst in der Kohlekommission, verrät Reiche

Doch bis grüner Wasserstoff breiter verfügbar ist, gilt sogenannter blauer Wasserstoff als streitbare Alternative. Der wird zwar auch aus Erdgas gewonnen, aber die entstehenden Treibhausgase abgeschieden und gespeichert, etwa in leeren Gasfeldern. "Ich habe den Eindruck, dass der Nationale Wasserstoffrat recht offen über blauen Wasserstoff als Übergangslösung diskutiert", sagt Reiche. Am Ziel dürfe es aber keine Zweifel geben: Spätestens 2050 dürfe man nur noch grünen Wasserstoff verwenden. "Die Zeit dazwischen wird wahrscheinlich bunt sein."

Die gebürtige Brandenburgerin und Mutter dreier Kinder ist seit Anfang 2020 Chefin der Westenergie, einer der größten Tochterfirmen des Eon-Konzerns. Zuvor war die CDU-Politikerin Mitglied des Bundestages, parlamentarische Staatssekretärin im Umwelt- und im Verkehrsministerium. "Jetzt arbeite ich da, wo Politik und Regulierung auf die Praxis treffen", sagt Reiche. "Ich finde es gerade als Chemikerin technisch hochinteressant, von einer regulierenden in eine gestaltende Rolle zu kommen."

In den vergangenen Jahren war Reiche auch Mitglied der Kohlekommission, die den Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung vorbereitet hat. "Gott sei Dank geht es dieses Mal nicht ganz so kontrovers zu", erzählt Reiche aus dem Wasserstoffrat. Ihr Kollege Felix Matthes vom Öko-Institut habe treffend gesagt, dass beide schon an vielen Ausstiegen mitgewirkt haben. "Jetzt arbeiten wir mal an einem Einstieg mit", sagt Reiche, "das ist eine schöne Aufgabe."

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