Vorbilder:Von Singapur bis Chile

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Teure Mieten, wenig Platz, diese Probleme gibt es überall. Doch an einigen Orten weiß man sich zu helfen.

Von SZ-Korrespondenten

Vertikale Dörfer in Singapur

Im Herzen von Chinatown ragt das "Pinnacle@Duxton" in den Himmel. Fünf Hochhaustürme, die ganz oben durch breite Brücken verbunden sind, sodass ein großer Himmelsgarten entsteht, mit Liegen unter Bäumen und bestem Blick über die gesamte Insel an der Wasserstraße von Malakka. Es ist ein Vorzeigeprojekt des öffentlichen Wohnungsbaus mit vielen kleinen, aber komfortablen Wohneinheiten: den "HDBs", benannt nach der Behörde, die sie plant und verwaltet, dem "Housing Development Board".

Für die Mehrzahl der Singapurer, vier von fünf, gibt es kein Leben und Wohnen ohne HDB. Sie wachsen in einem der Apartments auf, die sich über den ganzen Stadtstaat verteilen und einen parallelen Wohnungsmarkt zu den sogenannten Condominiums bilden, die dem freien Markt unterliegen und von den vielen Ausländern in Singapur genutzt werden. Die deutlich günstigeren HDBs sind für singapurische Staatsbürger reserviert. Jede singapurische Familie mit einem Monatseinkommen bis maximal 7500 Euro kann den Kauf eines solchen HDB-Apartments beantragen. Früher waren die Wohnungen nur Verheirateten vorbehalten, inzwischen können auch Singles, die 35 Jahre und älter sind, eine kleine HDB-Einheit erwerben. Die jeweilige Größe hängt von der Zahl der Familienmitglieder ab. Der Staat ermuntert zum Kauf und Besitz von Wohnraum, 90 Prozent der HDB-Nutzer leben in Apartments, die ihnen selbst gehören. Finanziert wird der Erwerb durch ein ausgeklügeltes Darlehenssystem. Für die Allerärmsten in Singapur gibt es Mietwohnungen, die teilweise nur 30 Euro im Monat kosten.

Etwa eine Million HDB-Wohnungen gibt es im Stadtstaat, bei einer Bevölkerung von fünfeinhalb Millionen. So hat Singapur seit den Sechzigerjahren sehr systematisch den Umzug dörflicher Gemeinden, der Kampongs, in Hochhausanlagen betrieben. Manche nennen die HDBs deshalb "vertikale Dörfer". Im Vielvölkerstaat werden die Apartments jeder Anlage nach einem Schlüssel vergeben, sodass keine Gettos einzelner Ethnien entstehen, sondern sich die größten Gruppen - Chinesen, Inder und Malaien - jeweils verteilen. Wie in allen Bereichen des Lebens bleibt auch beim Wohnen wenig dem Zufall überlassen. Das autoritär regierte Singapur erwirbt sich die Sympathie seiner Bürger vor allem durch ein hohes Maß an streng geregelter Fürsorglichkeit - ein System, in dem es dann aber auch weniger Freiheiten gibt als in vielen westlichen Ländern.

Arne Perras

Co-Living-Space in Berlin

Wohnen im angesagtesten Teil der Hauptstadt, mit einer modernen Küche und einer luxuriösen Dachterrasse - und das für wenige 100 Euro Miete im Monat und auch noch unbefristet. So soll man demnächst in Berlin unterkommen können. Einziger Haken: Man wohnt sehr eng. Zum Schlafen gibt es nämlich nur eine Art Nische mit einer Ablagefläche, in die das Nötigste hineinpasst. Der Rest sind Gemeinschaftsräume, Waschmöglichkeiten, Stauraum. "Pod-Living" lautet der etwas alberne Name des Modells, einer Mischung aus Studentenwohnheim, WG und japanischem Kapselhotel mit Schlafkojen.

Noch ist das Ganze im Entstehen. Das Start-up Robin Hood ist gerade dabei, eine große Gewerbeimmobilie in Neukölln anzumieten, um diese dann umzubauen. Wie viele Kojen es geben wird und was genau sie kosten sollen, wird noch nicht verraten. Nur so viel: Das Interesse ist enorm, auf der Warteliste haben sich bereits 2000 Leute eingetragen. Leute, die den Charakter Berlins ausmachen, Künstler, Kreative, Studenten, junge Zugezogene, die es aber immer schwerer haben, in der Stadt eine dauerhafte Bleibe zu finden.

Dennis Prinz, Gründer des Start-ups, könnte selbst einer von ihnen sein. Er hat Schauspiel studiert, hier und dort gelebt, dies und das kuratiert, bis es ihn irgendwann nach Berlin gezogen hat. Hier hat er in den vergangenen Jahren selbst erfahren, wie Wohnraum immer knapper und teurer wurde. Im Pod-Living soll man über eine App innerhalb von Stunden ein- und auschecken können, man könne aber auch dauerhaft bleiben, sagt Prinz.

Verena Mayer

Halbe Häuser in Iquique

Nichts ist so traurig wie der Anblick von Iquique, schrieb der weit gereiste Charles Darwin, als er im Jahr 1835 die Wüstenstadt am Pazifik erreichte. Damals gehörte sie noch zu Peru, heute liegt sie im Norden Chiles, eine Schönheit ist Iquique immer noch nicht. Dennoch wird der Ort von Architekturstudenten aus der ganzen Welt besucht - wegen 93 kleinen Häusern. Quinta Monroy heißt die Siedlung, die im Ruf steht, den sozialen Wohnungsbau revolutioniert zu haben. Auf einer Brache mitten im Zentrum lebten bis 2002 etwa hundert Familien in Baracken, manche hatten sich fast 30 Jahre lang erfolgreich gegen ihre Vertreibung gewehrt. Dann bekam der damals noch unbekannte Architekt Alejandro Aravena den öffentlichen Auftrag, diesen Menschen dauerhafte Behausungen zu bauen. Was er nicht bekam: genügend Geld. Die Lösung dieses Dilemmas brachte ihm 2016 den Pritzker-Preis ein, den Oscar der Architektur.

Aravena, 51, fragte nicht, wie bis dahin im sozialen Wohnungsbau üblich: Welche Art von schlechtem Haus wollen wir errichten? Sondern: Wie viel von einem guten Haus? Seine Idee folgte einer bestechenden Logik: Wenn man nur die Hälfte des nötigen Budgets zur Verfügung hat, dann muss man eben halbe Häuser bauen. Jede Familie von Quinta Monroy bekam ein Beton-Fundament, ein Dach, eine Küche, ein Bad, ein 30 Quadratmeter großes Zimmer sowie eine ebenso große Lücke - die zweite Hälfte zum Selberbasteln. Und tatsächlich hatten schon wenige Jahre später nahezu alle 93 Familien ihr Häuschen vervollständigt. Einige füllten ihre Lücke mit Holz, andere mit Backstein. Manche strichen die Fassade grün, andere pink, wieder andere strichen überhaupt nicht.

Die internationale Kritik ist bis heute begeistert. Bloß in Chile selbst ist die nicht ganz so einhellig. Muss man hart arbeitenden Menschen tatsächlich zumuten, nach Feierabend auch noch ihre Sozialwohnung fertig zu bauen? Außerdem hatte Aravenas offenbar nicht bedacht, dass Autos in Iquique wichtigere Statussymbole sind als Wohnungen. Die Innenhöfe der Siedlung waren in seinem Entwurf als begrünte Freiflächen konzipiert, wo sich Nachbarn begegnen und Kinder spielen sollten. Heute sind es überfüllte Parkplätze.

Boris Herrmann

Acht-Euro-Miete in Hamburg

Acht-Euro-Wohnungsbau ist das Schlagwort für die Initiative, die der Hamburger Senat mit der städtischen Entwicklungsgesellschaft IBA als Modellprojekt auf den Weg gebracht hat. Die Idee: Die Stadt verpflichtet Investoren beim Grundstückskauf auf eine Netto-Kaltmiete von acht Euro pro Quadratmeter für fünf Jahre. Eine Versicherungsgesellschaft aus der Schweiz hat sich auf den Deal eingelassen und baut im Stadtteil Neugraben-Fischbek ein Ensemble aus zwei viergeschossigen Mehrfamilienhäuser in Massivholzbauweise. Naturnah soll der Bau sein, außerdem eine günstige Energiebilanz aufweisen. Vor allem aber: Er soll trotz niedriger Kosten Wohnqualität bieten.

Doch ohne Abstriche ist die relativ niedrige Miete nicht zu haben. Tiefere Grundrisse und niedrigere Decken sollen das Bauen effizienter machen, stören aber den Lichteinfall. Einen Aufzug gibt es nicht, nur einen Schacht, um bei Bedarf nachzurüsten - viele Wohnungen sind deshalb zunächst nicht barrierefrei. Außerdem sind wenige Parkplätze eingeplant, dafür umso mehr Fahrradstellplätze. Der Hamburger Senat ist schon jetzt so überzeugt vom Acht-Euro-Wohnungsbau, dass er ihn zum Standard auf dem freien Wohnungsmarkt erheben will - möglichst mit längeren Sperren für die erste Mieterhöhung. "Wegweisend" nennt Senatorin Stapelfeldt das Vorhaben. Andere sind weniger optimistisch. Jens P. Meyer zum Beispiel, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der FDP-Bürgerschaftsfraktion, sagt: "Ein Investor muss eine angemessene Mietrendite erwirtschaften. In gefragteren Lagen und auf dem freien Markt wird sich dieses Modellprojekt daher wohl kaum durchsetzen." Abwarten.

Thomas Hahn

Genossenschaftsbau in Zürich

Ausgerechnet Zürich. Schicke Bankentürme, teure Einkaufsstraßen, ein ziemlich exklusives Lebensgefühl - ausgerechnet diese Stadt lockt auch Besucher aus aller Welt an, die sich für neue, günstige Formen des Wohnens interessieren. In einer der attraktivsten Wohngegenden Zürichs hat die Stadt vor einigen Jahren ein ungewöhnliches Wohnprojekt bewilligt: In unterschiedlichen großen Clustern wohnen Familien, WGs und Einzelpersonen zusammen, es gibt Begegnungsräume, gemeinsame Dachgärten, Partyräume, Couchecken. Eine Idee aus der Hausbesetzerszene.

Vieles, was sich Hausgemeinschaften normalerweise teilen, gibt es nicht: Eine Tiefgarage zum Beispiel. Wer in der Kalkbreite - so heißt das 2014 eröffnete Wohnhaus - einziehen möchte, verpflichtet sich, kein Auto zu besitzen. Denn Autos, darin sind sich die Bewohner, die neben einem Bio-Supermarkt, der fast ohne Plastikverpackung auskommt, auch einer Greenpeace-Geschäftsstelle Platz bieten, gibt es in der Stadt ohnehin schon zu viele. Dass die Kalkbreite funktioniert, bestreitet niemand mehr. Die Cluster-Wohnungen sind dank genossenschaftlicher Finanzierung ziemlich billig, die Wartelisten lang. 260 Menschen und 200 Arbeitsplätze haben dort, mitten in der Stadt, Platz gefunden. Und das obgleich jedem Bewohner nur etwa 34 Quadratmeter zur Verfügung stehen - der Schweizer Durchschnitt liegt bei 45 Quadratmetern. Die großzügigen Gemeinschaftsräume schaffen das, was sonst jedes Wohnzimmer für sich leisten muss. "Verdichtetes Wohnen" nennen das die Städteplaner. Ein Zauberwort.

Als der Münchner Stadtrat die Modellsiedlung 2017 besuchte, zeigte man sich beeindruckt, aber auch irritiert. Daheim in Bayern werde "jedes besetzte Haus innerhalb von 24 Stunden geräumt", berichteten die Besucher - und schienen gar nicht mehr so sicher, ob das eigentlich eine gute Sache ist.

Charlotte Theile

Verkannte Tradition in Tokio

Es gibt in Japan ein Wohnkonzept, das Platz und Energie spart und Ressourcen wiederverwertet. Es könnte ein Modell für die Zukunft sein. Doch das Land hat dieses Konzept, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat, in den Nachkriegsjahren fallen lassen. Im traditionellen japanischen Wohnhaus haben Räume keine Funktionszuordnung. Es gibt kein Schlaf-, Ess- oder Kinderzimmer. Und auch keine Möbel - außer vielleicht in einem Zimmer einen niedrigen Tisch und in einem anderen eine Kommode. Die Böden sind Tatami-Matten aus Reisstroh, auf denen die Menschen auf Sitzkissen essen, lesen und Hausaufgaben machen. Zum Schlafen holt man die Futons aus den Wandschränken, von denen es im traditionellen Haus viele gibt. So verwandelt sich das Ess- binnen Sekunden in ein Schlafzimmer. Schon deshalb brauchen die Japaner traditionell weniger Platz als wir Europäer. In den kleinen Häusern lebten meist drei Generationen unter einem Dach.

In der Edo-Zeit bis 1868, einer Zeit der strikten Klassengesellschaft, gab es in japanischen Städten Vorschriften, wie groß die Gebäude sein durften, die Angehörige der verschiedenen Klassen errichten. Damit sollte Platz und Heizenergie gespart werden. Zudem mussten alle Häuser nach Süden ausgerichtet sein und über eine Veranda verfügen. Vor allem in den in Großstädten Tokio und Osaka mit ihren sonnigen Wintermonaten half das ebenfalls, Energie zu sparen. Diese modern anmutende Wohnidee hat Japan in der Nachkriegszeit aufgegeben. Nach und nach werden alle traditionellen Häuser abgerissen. Sie müssen Fertighäusern von Firmen wie Panasonic und Toyota weichen, oder es werden große Wohnblocks gebaut. "Apato" nennen die Japaner winzige, schlecht gebaute Studios von meist 28 Quadratmetern. Heute hausen sehr viele alleinstehende junge Japaner in einem Apato. Die Häuser sind kaum isoliert, sie müssen im Winter stark beheizt und im Sommer mit viel Strom gekühlt werden.

Christoph Neidhart

© SZ vom 22.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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