Ursachen der Finanzkrise:"Eine von Kennziffern getriebene Welt"

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Die Denkart der Finanzmärkte ist zur Orientierungsmacht geworden. Soziologe Jürgen Kädtler über neue Wirklichkeiten.

Hans von der Hagen

sueddeutsche.de: Auf dem Weltfinanzgipfel haben sich die Teilnehmer auf eine umfassende Regulierung der Finanzmärkte geeinigt. Doch jede Regulierung hat Schlupflöcher. Traut sich der Staat zu viel zu?

Jürgen Kädtler ist Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) (Foto: Foto: oH)

Jürgen Kädtler: Entscheidend ist die Zahl und Größe der Schlupflöcher. Die Politik ist durchaus in der Lage, hier die Räume eng zu machen, wenn die Vertreter der wichtigsten Staaten an einem Strang ziehen. An diesem Punkt bin ich noch skeptisch. Wir haben bislang vor allem Bekenntnisse zu umfassender Regulierung, die Konkretisierung steht noch aus.

sueddeutsche.de: Die Antwort des Staates auf die Finanzkrise heißt bisher: Straffere Regeln. Die Antwort der Banken: Nachbessern der Bonussysteme. Reicht das?

Kädtler: Nein, das reicht definitiv nicht. Bonussysteme, die Aspekte von Langfristigkeit und Nachhaltigkeit berücksichtigen, sind sicher besser als solche, die auf kurzfristige Effekte abstellen. Nur sind gerade die in den zurückliegenden Jahren von eben den Bankmanagern massiv propagiert und durchgesetzt worden, die jetzt wieder ihre Einsicht und Eigenverantwortung als zureichende Regulierungsbasis anbieten. Sich allein darauf zu verlassen, wäre naiv und unverantwortlich.

sueddeutsche.de: Gibt es nicht auch ein Problem in der Bestimmung von Werten? Firmen verlieren binnen Tagen Milliarden an Wert, die Aktienkurse schwanken enorm. Offenbar weiß man nicht mehr, was was wert ist?

Kädtler: Die Bestimmung von Werten ist so schwierig, weil man sie aus unterschiedlicher Perspektive beurteilen kann. Das spiegelt sich schon in der Debatte um Stakeholder und Shareholder wider. Stakeholder - also Mitarbeiter, Zulieferer oder auch der Unternehmer im klassischen Sinne - denken langfristiger als die Shareholder, also die Aktionäre, oder als solche Manager, die sich in erster Linie auf die Perspektive der Shareholder beziehen. In den letzten 15 bis 20 Jahren hat sich in Europa ein Wertbegriff durchgesetzt, der stark mit der Perspektive von Finanzmarkt-Akteuren verknüpft ist. Er ist zur gesellschaftlichen Orientierungsmacht geworden, zur Norm von Wirtschaftlichkeit an sich.

sueddeutsche.de: Um den Shareholder Value ist es allerdings still geworden ...

Kädtler: Das scheint nur so. Denn was zunächst unter dem Ausdruck Shareholder Value diskutiert wurde, wird heute unter dem Begriff Unternehmenswert oder Wertorientierung gehandelt. Es ist im Grunde das Gleiche, nur steht der Bezug zu einer Anspruchsgruppe - den Aktionären eben - nicht mehr ganz so deutlich im Vordergrund. Das hatte die Debatte ja anrüchig gemacht.

sueddeutsche.de: Hat der starke Blick auf die Finanzmarktperspektive die aktuelle Krise begünstigt?

Kädtler: Langfristig gesehen: ja. Wir leben in einer von Kennziffern getriebenen Welt. Dazu gehören eben auch Renditevorgaben, die erst dann gut sind, wenn sie dem Finanzmarkt gefallen. Die Unternehmen werden fast nur noch entlang solcher Kennziffern geführt - zu Lasten längerfristiger Orientierungen. Dadurch haben die Finanzmärkte als wirtschaftliche Leitorientierung eine Art Eigenleben gewonnen, bei dem die Rückkopplung an realwirtschaftliche Vorgänge locker geworden ist.

sueddeutsche.de: Wie weit kann sich denn die Finanzwelt von der Güterwirtschaft entfernen?

Kädtler: Sie kann sich natürlich nicht völlig lösen. Aber es sind mittlerweile derart viele Organisationen, Prozesse und Akteursgruppen dazwischengeschaltet, dass die Verbindungen zwischen Finanz- und Wirtschaftswelt nur noch sehr unvollständig durchschaut werden.

sueddeutsche.de: Immunisiert das nicht auch die Realwirtschaft ein Stück weit von der Finanzwirtschaft?

Kädtler: Nur insoweit, als es mittlerweile möglich ist, dass eine Krise relativ autonom in der Finanzsphäre entstehen kann. Das ist eine neue Entwicklung: Früher galt die Finanzsphäre eher als Vermittlungsinstanz der Realwirtschaft, so dass Fehlentwicklungen am Finanzmarkt belegten, dass in der Realwirtschaft etwas nicht stimmte. Aus meiner Sicht ist es kaum denkbar, dass sich eine Krise in der Finanzwirtschaft nicht in der Realwirtschaft niederschlägt.

Auf der nächsten Seite: Warum das Bauchgefühl keine Chance mehr hat.

sueddeutsche.de: Aber der aktuellen Finanzkrise ging der Preisverfall am US-Immobilienmarkt voraus. Kann man da von einer autonomen Finanzmarktkrise sprechen?

Kädtler: Ja, weil man sich fragen muss, wie die Blase am Immobilienmarkt überhaupt entstehen konnte. Die amerikanische und im geringeren Maß auch die britische Hypothekenkrise ist eine der bestprognostizierten Krisen überhaupt. Man weiß seit Anfang des Jahres 2000, dass sich der Markt überhitzte und dass es in den USA eine Konsumquote von mehr als 100 Prozent gibt. Jeder verwies auf die Risiken. Dann ist es überraschend, dass diese schon damals als gefährlich geltenden Immobilien noch einen solchen Stellenwert im verbrieften Kreditsystem erreichen konnten.

sueddeutsche.de: Die Krise war demnach unausweichlich?

Kädtler: Die Preise stiegen und die Besitzer beliehen immer wieder ihre Häuser neu, um noch mehr Geld für den Konsum zu haben. Doch Kredite müssen irgendwann einmal zurückgezahlt werden. Man braucht keinerlei Kenntnisse in Finanzmathematik, um zu erkennen, dass so etwas nicht gutgehen konnte. Dass das Bauchgefühl in dem hochprofessionalisierten System keine Chance mehr hatte, ist ebenso frappierend wie spannend.

sueddeutsche.de: Warum hatte es keine Chance?

Kädtler: Der Grund ist erschreckend banal: Die klassischen Banker wissen, wie Kredite im wirklichen Leben funktionieren. Das schließt vor allem ein aktives Management absehbarer Ausfallrisiken ein. Doch wenn die Kredite am Kapitalmarkt weiterverkauft werden, bricht dieser Mechanismus ab. Der Banker verkauft seine Zuständigkeit. Sie wird von jungen, hochspezialisierten Mathematikern übernommen, die viel von Modellen, aber nichts von Krediten verstehen. Dennoch gelten sie "als die Experten" - man glaubt ihnen.

sueddeutsche.de: In einer Fabrik ist es nicht anders ...

Kädtler: Aber in der Finanzwirtschaft funktioniert offenbar nicht, was in einer Fabrik funktioniert: In der Fabrik hat auch jeder Arbeiter seine Spezialisierung, aber er weiß, was am Ende herauskommen muss. In der Finanzindustrie ist die Abschottung einzelner Expertenbereiche derart groß, dass das Kollektivgut "funktionierender Finanzmarkt" aus dem Blick geraten ist. Darum finden sie jetzt keinen, der für die Krise verantwortlich ist, sondern nur kollektive Unverantwortlichkeit. Der Hinweis auf die "Gier" bestimmter Akteure und Akteursgruppen ist in vielen Fällen sicher nicht falsch, er erklärt aber nichts.

sueddeutsche.de: Die Mechanik von Finanzkrisen ist immer die gleiche. Warum gibt es keinen Lerneffekt?

Kädtler: Es gibt Lerneffekte: Nach der Weltwirtschaftkrise wurden die Finanzmärkte drastisch reguliert. Ein großer Teil der Finanzinstrumente, die heute üblich sind, waren selbst in den USA bis in die siebziger Jahre als Spielertum verboten. Doch es ist wie bei einem Zuckerkranken, dem es 30 Jahre lang mit den Insulinspritzen gutgeht und der fälscherlicherweise zum Schluss kommt: "Jetzt muss ich es nicht mehr nehmen." Und dann geht alles wieder von vorne los.

sueddeutsche.de: Warum fühlt man sich plötzlich so sicher?

Kädtler: Weil sich in den sechziger Jahren die moderne Finanzmathematik durchsetzte. Sie hatte zuvor in den Wirtschaftswissenschaften keine nennenswerte Rolle gespielt. Doch mit den neuen mathematischen Instrumenten wurden Risikomodelle entwickelt, die sich beim Testen an historischen Daten als halbwegs robust erwiesen.

sueddeutsche.de: Erstmals gab es den Glauben, Risiken beherrschen zu können?

Kädtler: Genau. Dinge, die man vorher nicht rational abschätzen konnte, wurden berechenbar. Das löste Allmachtsphantasien aus. Grenzen, die man vorher sicherheitshalber eingezogen hatte, wurden aufgelöst. Konnten vorher US-Pensionsfonds beispielsweise nur in ein paar handverlesene Papiere investieren, durften sie fortan überall anlegen, solange sie sich an die Modelle hielten. Die Eingrenzung des einen Risikos löste also das Eingehen neuer Risiken aus. Die Risiken wurden einfach weitergetrieben.

sueddeutsche.de: Aber warum fällt man immer wieder auf die Nase? Wird falsch gerechnet?

Kädtler: Alle Berechnungen beruhten auf historischen Daten. Dabei entsteht ein Problem: Wenn etwas, was ursprünglich zufällig entstanden ist - also die historischen Daten -, zur Grundlage neuen Handelns wird, verändert es die Versuchsanordnung: Sie bekommen eine neue Wirklichkeit. Gleichzeitig ahmt jeder den anderen nach und rechnet mit vergleichbaren Modellen. Da muss zwangsläufig eine Blase entstehen. Würden nicht so viele Banken und Anleger das Gleiche tun, bliebe das Handeln ausbalanciert.

sueddeutsche.de: Aber wie will man verhindern, dass einer den anderen nachahmt?

Kädtler: Das ist kaum möglich, denn das Nachahmen birgt Rationalität. Das hat schon der Ökonom John Maynard Keynes einst in seinem Bild von dem Schönheitswettbewerb beschrieben: Wenn Sie als Schiedsrichter in einer Schönheitswettbewerbskommission sitzen und derjenige, der die Siegerin oder den Sieger gewählt hat, eine Auszeichnung erhält, dann ist es rational, sich nicht unbedingt nach dem eigenen Schönheitsempfinden zu richten, sondern abzuschätzen, was die anderen tun. Genau das machen Banken und Anleger.

sueddeutsche.de: Die Finanzmarktkrise heizt die Diskussion um den Kapitalismus an. Kann so eine Krise die Gesellschaft verändern?

Kädtler: Nicht grundlegend. Wenn es gutgeht, wurde gelernt, dass Regulierung der Märkte eine wichtigere Rolle einnimmt als bislang gedacht. Es gibt absehbar nur die Alternative zwischen mehr oder weniger gut funktionierenden Kapitalismen. Gut funktionierende gibt es nur mit funktionierenden Finanzmärkten - und keinen Zeitbomben. Das zu gewährleisten, ist Aufgabe von Politik.

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