Untersuchungsbericht:Flug JT610 hätte niemals starten dürfen

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Schon in den Tagen zuvor hatten die Piloten Fehler bei den Cockpitanzeigen gemeldet. Die Angaben zu Flughöhe und Geschwindigkeit von Kapitän und Co-Pilot widersprachen sich.

Von Jens Flottau, Berlin

Nach den Regeln der internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO haben die zuständigen Behörden genau 30 Tage Zeit, bevor sie einen vorläufigen Bericht über einen Flugzeugabsturz vorlegen müssen. Weil das in der Regel viel zu wenig Zeit ist, um die komplexen Zusammenhänge zu rekonstruieren und Schlüsse zu ziehen, sind diese ersten Zwischenberichte oft wenig aussagekräftig, sie genügen lediglich dem internationalen Protokoll. Doch der erste 78 Seiten starke Bericht der indonesischen Luftfahrtbehörde NTSC über den Absturz einer Boeing 737-8 der Billigfluggesellschaft Lion Air hat es in sich.

Die wenige Monate alte Boeing 737-8 der Lion Air war am 29. Oktober rund 13 Minuten nach dem Start vom Flughafen Jakarta abgestürzt, nachdem die Piloten die Kontrolle über die Maschine verloren hatten. Alle 188 Menschen an Bord waren dabei ums Leben gekommen. Der Absturz war der erste Unfall einer 737-8, der neuesten Generation des in der Luftfahrt allgegenwärtigen Kurz- und Mittelstreckenflugzeuges.

Als wichtigste Empfehlung aus den bisherigen Erkenntnissen betont die NTSC, dass Piloten von Lion Air künftig bei Defekten an wichtigen Geräten den Flug nicht zum Zielflughafen fortsetzen sollen, sondern sofort landen. Und ohne ausreichende Reparaturen und ausgiebige anschließende Tests sollen die Maschinen auch nicht mehr starten. Lion Air solle an der "Sicherheitskultur" arbeiten, um sicherzustellen, "dass die Piloten die richtigen Entscheidungen treffen können." Mit anderen Worten: Flug JT610 hätte niemals starten dürfen.

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(Foto: Darren Whiteside/Reuters)

Anhand eines Modells erläutert ein Mitarbeiter der Nationalen Verkehrssicherheitskomitees Indonesiens die Gründe für den Absturz des Flugzeugs von Lion Air.

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(Foto: Beawiharta Beawiharta/Reuters)

Ein Techniker prüft eines der gefundenen Triebwerke.

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(Foto: Fauzy Chaniago/dpa)

Der Flugdatenschreiber wird geborgen. Bei dem Absturz der Maschine kamen 188 Menschen ums Leben.

Der NTSC-Bericht macht deutlich, dass, wie bei praktisch allen Abstürzen, eine Reihe von Faktoren ursächlich waren und nicht ein einzelner Fehler. In den Fokus rückt die Untersuchung allerdings die Frage, warum niemand bei Lion Air das Flugzeug nicht bereits lange vor dem letzten Flug aus dem Verkehr gezogen hat, bis es repariert wurde. Auf mehreren Flügen in den Tagen zuvor hatten die Piloten Fehler bei den Cockpitanzeigen gemeldet: Die Angaben zu Flughöhe und Geschwindigkeit, die für Kapitän und Kopilot separat dargestellt werden, widersprachen sich. Schließlich ersetzten Mechaniker am Vortag einen Sensor, der den Anstellwinkel des Flugzeuges (Angle of Attack, AOA) misst.

Am Abend flog die Maschine dann von Denpasar nach Jakarta, doch bereits kurz nach dem Start tauchten die schon zuvor festgestellten Probleme wieder auf: in einer Höhe von nur 400 Fuß (150 Metern) setzte der sogenannte "Stick Shaker" ein - dabei rüttelt die Kontrollsäule des Piloten heftig, um die Crew vor einem drohenden Strömungsabriss und Verlust des nötigen Auftriebs zu warnen. Ungewöhnlicherweise trat die Warnung nur auf der Seite des Kapitäns auf. Gleichzeitig stellten die beiden Piloten fest, dass ihre Geschwindigkeitsangaben nicht übereinstimmten. Der Kapitän übergab daraufhin die Kontrolle des Flugzeuges an den Ersten Offizier. Dieser kämpfte zwar nicht mit dem "Stick Shaker", dafür senkte aber das Flugzeug computergesteuert die Nase, bis die Crew die Schalter für die automatische Adjustierung des Höhenruders ausschaltete. Die beiden beschlossen, den Flug bis Jakarta fortzusetzen und zwar ohne Automatik.

Die Branche diskutiert, ob Boeing ausreichend über eine neue Technik an Bord informierte

In Jakarta berichteten sie der Wartungsabteilung von den Vorfällen. Der zuständige Mechaniker reinigte den auffällig gewordenen AOA-Sensor und testete anschließend seine Funktion am Boden. Lion Air hielt das Flugzeug für flugtüchtig - die NTSC aber nicht. Dennoch hob Flug JT610 am nächsten Morgen ab, und trotz der Reparaturversuche meldeten die Piloten der Flugsicherung über Funk, dass sie sowohl abweichende Geschwindigkeits- und Höhenangaben, als auch Kontrollprobleme hatten. Auch der Stick Shaker war wieder aktiviert und blieb es über den gesamten Flug. Im Falle von JT610 lag aber gar kein Strömungsabriss vor, der Sensor übermittelte aller Wahrscheinlichkeit falsche Werte. Die beiden AOA-Sensoren zeichneten Werte auf, die um 20 Grad voneinander abwichen.

Anders als auf den früheren Flügen schalteten die Piloten die automatischen Steuerimpulse für das Höhenruder nicht ab, obwohl die Verfahren in einer solchen Situation klar sein müssten. Die Frage ist: Warum nicht?

Eine wesentliche Schwierigkeit der Untersuchung besteht darin, dass der Cockpit-Stimmenrekorder noch nicht gefunden wurde und damit auch noch nicht ausgewertet werden konnte. Die Aufzeichnung der Gespräche zwischen den Piloten dürfte weitgehend klären, was die beiden über die Systeme und Verfahren wussten und was nicht.

In den Wochen seit dem Absturz hat die Branche wild über das Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) diskutiert, das Boeing bei der 737-8 erstmals eingeführt hat. MCAS sorgt dafür, dass das Flugzeug automatisch in bestimmten extremen Fluglagen den Anstellwinkel reduziert, um einen Strömungsabriss zu verhindern. Die Aerodynamik des Flugzeuges unterscheidet sich von der der Vorgängerserie NG (Next Generation) unter anderem deswegen, weil die größeren Triebwerke weiter vorne und höher angebracht werden mussten. Die Diskussion konzentriert sich auf den Punkt, ob Boeing die Branche ausreichend über die Neuerung informiert hat: Mehrere Fluggesellschaften betonten, sie hätten davon nichts gewusst, andere wiederum, darunter Tuifly und Norwegian, fühlten sich ausreichend ins Bild gesetzt. Boeing betont: Die Piloten müssten bei einem MCAS-Fehler nichts anderes tun, als das, was sie immer tun, wenn die sogenannte Trimmung des Flugzeuges nicht richtig funktioniert - manuell gegensteuern und am Ende das System abschalten.

© SZ vom 29.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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