Türkei:Ende des Booms

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Wie geht es in der Türkei weiter? Von "Abwarten und Teetrinken", wie diese Männer in einem Istanbuler Straßencafé, hält man in der Wirtschaft wenig. (Foto: Murad Sezer/Reuters)

In der türkischen Wirtschaft herrscht nach der Wahl Unsicherheit. Zwar sind viele Unternehmer froh, dass Erdoğans Partei AKP einen Dämpfer bekommen hat. Doch nun drohen Neuwahlen - und das könnte Großprojekte gefährden.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Als die Türken bei der Parlamentswahl ihrem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen AKP die Alleinherrschaft entrissen, verlor auch eine Firma bei Izmir deutlich an Wert. Sie heißt Katmerciler. Das wohl bekannteste Produkt des Unternehmens hat die sperrige Bezeichnung "Fahrzeug zur Intervention bei sozialen Ereignissen". Wasserwerfer also. Die Türken haben sich die Abkürzung dafür eingeprägt: Toma.

Seit den Unruhen um den Istanbuler Gezi-Park 2013 sind die bulligen Toma-Fahrzeuge mit Spritze auf dem Dach zum Symbol für die wachsenden Spannungen im Land geworden. Je stärker Erdoğan die Macht an sich gezogen hat, desto erfolgreicher war auch der Wasserwerfer-Hersteller. Auf dem Taksim-Platz im Herzen der Stadt hatten die Autos schon Dauerparker-Status. Im Herbst vergangenen Jahres, als es in den kurdisch-geprägten Gebieten des Landes zu Unruhen kam, ging der Aktienkurs der Firma durch die Decke: Regierungschef Ahmed Davutoğlu hatte erklärt, für jeden zerstörten Toma werde die Regierung fünf oder gleich zehn neue anschaffen. Die fetten Jahre der AKP, das waren auch die fetten Jahre dieses Unternehmens, hinter dem ein ehemaliger AKP-Abgeordneter steht. Am Montag musste die Firma einen Kurseinbruch von etwa 20 Prozent verkraften, davon erholt sie sich nur langsam.

Erdoğan hatte das Land saniert, nachdem seine islamisch-konservative Partei 2002 an die Macht gekommen war. Zwischenzeitlich war die Türkei ein Wirtschaftswunderland. Jeder spürte den Aufschwung. Der Boom ist aber vorbei. Die Arbeitslosenquote kletterte auf elf Prozent. Wer der AKP nahestand konnte nur eben ein bisschen länger auf dem Sonnendeck bleiben - so wie Katmerciler. Überhaupt hat die Wahl tiefe Spuren hinterlassen. Die Börse in Istanbul geriet am Montag nach der Wahl unter Druck. Die Lira gab im Handel mit dem US-Dollar nach. Für einen Dollar mussten am Morgen knapp 2,80 Lira hingelegt werden - so viel wie noch nie.

In der Türkei herrscht gerade eine große Unsicherheit, der mit Wasserwerfern nicht beizukommen ist.

Ein gebremster Erdoğan - das war durchaus im Sinne der Wirtschaft. Dass der Präsident immer noch mehr Macht für sich verlangte, im Falle eines Wahlsieges ein Präsidialsystem einführen wollte, sorgte in Unternehmerkreisen lange vor der Wahl schon für Unruhe. Monatelang stritt sich der Staatspräsident mit dem Chef der Zentralbank Erdem Başçı. Erdoğan setzte ihn unter Druck, die Zinsen zu senken. Alles andere war für ihn Verrat am Land. Investoren fürchteten um die Unabhängigkeit des Instituts. Aus Unternehmersicht beunruhigend waren auch die Umstände der Verstaatlichung der Bank Asya. Sie hat Verbindungen zum muslimischen Prediger Fethullah Gülen. Gülen war einst ein Weggefährte von Erdoğan. Heute ist er Staatsfeind Nummer 1, den er mittlerweile mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft.

Große Pläne: In Anatolien soll eine ganz neue Stadt als Logistikzentrum entstehen

Die AKP kam am Wahlabend aber nur auf 41 Prozent der Stimmen. Das war mehr als bloß ein Dämpfer. Das reicht nicht, um weiterhin allein zu regieren. Auch wenn Erdoğan zunehmend autoritäre Züge angenommen hatte: Die AKP-Jahre gehörten zu den politisch stabilsten in der Geschichte der modernen Türkei. Die Oppositionsparteien sind alle mit dem Versprechen angetreten, das System AKP zu beenden. Und weil Erdoğan nicht gelernt hat, Macht zu teilen, machte mit Sonnenaufgang bereits das Wort Neuwahlen die Runde.

Der Chef der Wirtschaftskammer, Rifat Hisarcıklıoğlu, warnt: "Wir müssen uns auf die Wirtschaft konzentrieren." Neuwahlen könnten erst im November stattfinden. Das Land habe keine Zeit zu verlieren. Der türkische Industrieverband Tüsiad erklärte: "Wir möchten, dass die neue Regierung die demokratischen Normen und den Rechtsstaat stärkt." Die Wirtschaft im Land würde - so ist es den Reaktionen zu entnehmen - wohl einer großen Koalition aus AKP und der säkularen CHP, der Atatürk-Partei, den Verzug geben. Die Kemalisten kamen auf etwa 25 Prozent der Stimmen. Die Wirtschaft war ihr großes Thema. Während Erdoğan Politik für die Bosse machte, warb die CHP mit einem höheren Mindestlohn von umgerechnet 500 Euro und dem Versprechen, Kreditkartenschulden zu erlassen, bei den einfachen Leuten um Wählerstimmen. In Anatolien soll eine ganz neue Stadt als Logistikzentrum gebaut werden - mit 2,2 Millionen neuen Jobs, versprach die CHP. Träumerei? AKP-Chef Ahmet Davutoğlu meint, die Idee hätte seine Partei schon früher gehabt. Erdoğan hinterlegte bei der CHP, dass die offenen Baustellen bloß nicht unter den neuen Machtverhältnissen leiden dürften: Dritter Flughafen für Istanbul, dritte Brücke über den Bosporus. Der Gigantismus scheint weiterhin eine Mehrheit zu haben.

© SZ vom 16.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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