Toll Collect:Technisch machbar — aber noch nicht jetzt

Lesezeit: 6 min

Untätige Telefonisten in einem Potsdamer Hinterhof, aufgeregte Manager in Berlin - die Probleme der Pannenfirma Toll Collect liegen in der Struktur.

Von Ulf Brychcy, Karl-Heinz Büschemann und Jeanne Rubner

(SZ vom 15.10.2003) — Das dunkelbeige verputzte, dreistöckige Bürogebäude sieht ein bisschen so aus, als ob es seine beste Zeit schon hinter sich hätte. Kalter Nebel hängt in der Luft an diesem frühen Dienstagmorgen.

Eine verblühte Silberdistel wuchert vor dem Seiteneingang, das Hauptportal wirkt wie der Zugang zu einem Kühllagerhaus, steril und abweisend. Die Eingangspforte klemmt, und wer sie aufdrückt, verschwindet sogleich hinter schweren, fensterlosen Stahltüren, wie man sie aus Heizungskellern kennt.

"Ganz schön langweilig"

Kein Foyer gibt es im kahlen Flur, keine Empfangsdame, Publikumsbesuch ist wohl nicht vorgesehen hier im Service Center des Mautsystem-Betreibers Toll Collect.

Eigentlich sollten in diesem schmucklosen Hinterhof in Potsdam, Zeppelinstraße, rund um die Uhr die Telefone klingeln. Doch es ist anders gekommen. Nur wenige Spediteure rufen an, um ihre Fragen über die Lkw-Maut und die elektronischen Boxen loszuwerden. "Ganz schön langweilig", sagt ein Beschäftigter von Toll Collect.

Der junge Mann, der seinen Namen unter keinen Umständen in der Zeitung lesen will, ist einer von rund 170 Mitarbeitern, die erst geschult und dann in vier Teams aufgeteilt wurden, um in Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch Ratschläge darüber zu geben, wie die Mauterhebung über die Bordgeräte in den Lkws, auch On Board Units (OBU) genannt, funktioniert - wenn sie denn jemals funktioniert.

Auch an diesem Dienstagmorgen stehen viele der jungen Call-Agenten vor den raumhohen Fenstern, trinken langsam ihren Kaffee, schauen nach draußen, plaudern. Es hat sich bereits herumgesprochen, was 40 Kilometer weiter östlich geschehen ist, am Potsdamer Platz in Berlin, am Firmensitz: Ihr Geschäftsführer Michael Rummel muss seinen Posten räumen.

Hier in Potsdam drückt ein schlanker junger Mann, schwarzer Anzug, blaues Hemd, gerade zum vierten Mal auf die Klingel an der Eingangspforte. Er gibt sich sehr wortkarg. Sagt nicht mehr, als dass ihn Toll Collect als Berater angeheuert habe. Glaubt er, dass das Pannensystem, mit dem sich zwei deutsche Vorzeige-Konzerne gerade bis auf die Knochen blamiert haben, denn nun endlich seinen Probebetrieb aufnehmen kann? Keine Antwort, statt dessen ein spöttisches Lächeln.

1500 Mitarbeiter

Inzwischen lacht die ganze Republik - und ist empört. Was zur technologischen Glanzleistung und zum Exportschlager werden sollte, geriet zum politisch-ökonomischen Desaster. Und die Firma am Potsdamer Platz, die das rund eine Milliarde Euro teure Projekt auf die Beine stellen sollte, machte den Eindruck einer rührenden Hilflosigkeit. Es schien, als sei Toll Collect ein Kind, das von seinen Eltern im Stich gelassen worden ist.

Der Grund für ist in der eigenartigen Konstruktion der kleinen Gesellschaft zu suchen, die inzwischen nach eigenen Angaben insgesamt 1500 Mitarbeiter hat, von denen aber nur etwa 100 an der Entwicklung des komplizierten Systems arbeiten. Die drei Gesellschafter Deutsche Telekom, DaimlerChrysler und der französische Autobahn-Betreiber Cofiroute haben die Spitze von Toll Collect so organisiert, wie man normalerweise Parteivorstände besetzt - streng nach Proporz.

Daimler und Telekom sind mit je 45 Prozent beteiligt, Cofiroute hält zehn Prozent. Jeder Gesellschafter durfte einen Vertreter in die Geschäftsführung entsenden. So wurde Michael Rummel, der technisch verantwortliche Projektleiter, von DaimlerChrysler geschickt.

Der Finanzchef Dieter Häkes kam von der Telekom. Als Sprecher der Geschäftsführung beriefen die Gesellschafter Hans-Burghard Ziermann, einen "neutralen Mann", wie man sich bei Toll Collect auszudrücken pflegt.

Unklare Kommandostrukturen

Ziermann kam vor ein paar Monaten vom Mobilfunk-Unternehmen O2. Der Telefonmann war zwar primus inter pares, hatte aber mit der Entwicklung des Desaster-Systems nur wenig zu tun und wenig zu sagen. Auch Projekt-Chef Rummel war, wie bei Toll Collect bestätigt wird, nicht mit voller Kraft bei der Maut-Firma tätig.

Er blieb noch mit einem Bein bei seinem alten Arbeitgeber DaimlerChrysler Services AG, der ebenfalls in Berlin ansässig ist, in Diensten und sollte Ende des Jahres dorthin zurückkehren.

Auch die Kommandostrukturen waren unklar. Die Großgesellschafter Daimler und Telekom hielten sich gegenseitig in Schach. Dabei sind die Manager beider Konzerne bekannt dafür, dass sie machtbewusst sind und die Führung ungern anderen überlassen. Nur so ist erklärlich, warum Toll Collect wochenlang in der Öffentlichkeit zunächst gar nicht reagierte, dann ratlos wirkte und erst jetzt personelle Konsequenzen zog.

"Wenn sich einer unserer Projektleiter öffentlich so dargestellt hätte, hätten wir ihn nach drei Tagen gefeuert", sagt ein Manager der Firma Siemens, die sich ebenfalls, jedoch vergebens, um das Mautsystem beworben hatte.

Es ging damals um "eine Lizenz zum Gelddrucken", wie ein Toll Collect-Vertreter offen zugibt. Immerhin soll das deutsche Lkw-Mautsystem nach den Planungen von DaimlerChrysler und Telekom bis 2013 pro Jahr den beiden Hauptgesellschaftern je 410 Millionen Euro an Gewinn vor Steuern in die Kassen spülen.

Traum von der Führungsrolle

Mit solchen Zahlen vor den Augen haben die Verantwortlichen allerdings ihre Fähigkeiten offenbar völlig überschätzt und der ungeduldigen Regierung versprochen, was sie hören wollte. "Es wäre eine große Enttäuschung gewesen, wenn wir den Auftrag nicht bekommen hätten", gestand der jetzt geschasste Geschäftsführer Rummel.

Es geht um gigantische Märkte. DaimlerChrysler wie Telekom versprechen sich vom deutschen Mautsystem den Einstieg die Geschäfte mit Telematik-Angeboten, also Technolgien der Verkehrslenkung oder Navigation.

"Ziel der Deutschen Telekom ist es, europaweit die Führungsrolle im Bereich Maut und Verkehrstelematik zu erreichen", heißt es in einem internen Strategiepapier des Telefon-Konzerns. Die elektronischen Mautsysteme seien dazu der Türöffner - im Telekom-Jargon "der Enabler für die breite Penetration von Verkehrstelematik-Diensten."

Die Märkte sind großzügig definiert: Alle Staaten der EU sowie die osteuropäischen Beitrittsländer. Und dann gehe es weiter in "Sekundärstaaten" wie Russland und die Türkei sowie nach Asien und Amerika, heißt es weiter in dem Papier. "Grundsätzlich müssen diejenigen Länder priorisiert gewonnen werden, durch die die größten Domino-Effekte bewirkt werden."

In ganz Europa sieht die Telekom im Telematik-Geschäft Umsatzpotenziale von 76 Milliarden Euro. Ein Drittel davon hofft der Bonner Konzern in seine Kassen zu lenken.

"Nichts funktioniert richtig"

Vorerst ist daran nicht zu denken, die Serie technischer Pannen hat eine Inbetriebnahme des Maut-Systems in weite Ferne gerückt. Fragt man bei Fachleuten nach, wo es denn nun hakt, so erhält man viele verschiedene Antworten.

Ein Telekom-Experte nennt Mängel an den Bordgeräten als Ursache, beim französischen Konsortialpartner Cofiroute heißt es, die Software sei das Problem. Und ein technischer Beraters, der für Toll Collect gearbeitet hat und deshalb anonym bleiben will, sagt: "Nichts funktioniert richtig."

Er und andere Fachleute der Branche schütteln nur den Kopf darüber, wie sich Toll Collect auf das von einer steuerhungrigen Berliner Regierung diktierte knappe Zeitbudget einlassen konnte: "Jeder, der ein kompliziertes System entwickelt, weiß, dass er für die Testphase mindestens so viel Zeit braucht wie für die Entwicklung".

Denn wann immer man Software oder Hardware verschiedener Firmen zusammenschaltet, stürzen fast unweigerlich die Computer ab. Und es sind viele Firmen am Projekt beteiligt: kleine Software-Unternehmen wie die Berliner Firma OMP, in deren Aufsichtsrat zufällig der geschasste Toll Collect-Chef Michael Rummel saß, ferner Siemens oder Vodafone, die als Bieter leer ausgingen und dafür mit Aufträgen getröstet wurden.

"Viel zu komplex"

Dabei halten Spezialisten das System nicht für prinzipiell schlecht. "Unter den Bedingungen, welche die deutsche Politik diktiert hat, ist das Konzept vernünftig", sagt Fritz Busch, Experte für Verkehrs-Telematik und Professor an der Technischen Universität München.

Die Vorgabe aus Berlin war, dass die Mauterhebung automatisch und flexibel sein solle und den Verkehrsfluss nicht stören dürfe. Im Vergleich zu dem, was verlangt wurde, wirken die konkurrierenden Systeme aus der Schweiz oder Österreich jedenfalls direkt primitiv.

Doch für die Allround-Technik, die der Allianz aus Politik und Wirtschaft vorschwebte, war der Zeitrahmen viel zu eng. "Es ist technisch machbar, aber eben nicht innerhalb eines Jahres, dazu ist das Ganze viel zu komplex", sagt Professor Busch. Auch nicht innerhalb der 15 Monate, die man jetzt anpeilt.

Der Münchner Fachmann tippt auf Herbst 2004, bis das Mautsystem funktioniert - wenn von jetzt an alles gut läuft und die Spediteure den Probebetrieb nicht boykottieren.

Ein Mann von Mannesmann

Michael Rummel, der entlassene Geschäftsführer, wird es als Zaungast verfolgen können. Sein letzter öffentlicher Auftritt liegt eine Woche zurück, viel sagen durfte er schon da nicht mehr.

DaimlerChrysler-Vorstand Klaus Mangold, 60, und Deutsche Telekom-Vorstand Josef Brauner, 53, hatten in den großen Sitzungsraum des DaimlerChrysler-Hauses am Potsdamer Platz in Berlin geladen.

Die Manager waren alarmiert, weil die Bundesregierung mit einem Ausstieg aus dem Betreibervertrag gedroht hatte. Mangold spielte den Geschmeidigen, räumte vorsichtig den einen oder anderen Fehler ein: Man habe den engen Zeitrahmen unterschätzt, aber bitte, "viele Hightech-Projekte gelingen ja am Anfang nicht".

Der 47-jährige Rummel, ein alt gedienter Daimler-Manager, saß daneben und verzog keine Miene. Sein perfekt sitzender Anzug, die dezente Krawatte, beides wirkte plötzlich wie eine Rüstung.

Stets sind die anderen Schuld

Sein volles Gesicht entspannte sich erst, als Mangold wortreich versuchte, die Pannenserie und die wiederholten Startverzögerungen zu erklären.

Irgendwie sind für Mangold stets die anderen schuld: der Bundesverkehrsminister, Brüssel, der Bundesrat, das einst konkurrierende Konsortium Vodafone-Ages, die störrischen Spediteure, die Hersteller der Mautboxen.

Logisch also, dass der DaimlerChrylsler-Vorstand und sein Partner Brauner von der Telekom personelle Konsequenzen strikt ablehnten. "Wir nehmen einen neuen Anlauf", sagte Mangold. Er selber jedenfalls darf sein Gesicht wahren und muss das Amt als Toll Collect-Aufsichtsratschef erst Mitte Dezember aufgeben - genau an dem Tag, an dem er sowie in den Ruhestand geht.

Höchst ambitioniert

Statt seiner soll künftig Peter Mihatsch als Aufsichtsratschef bei Toll Collect die Chose richten. "Der ist ein Supertyp", sagt ein enger Mitarbeiter von Daimler-Chef Jürgen Schrempp. Der Konzernboss, der sich während des Maut-Desasters bisher nicht zu Wort meldete, hat Mihatsch schon vor ein paar Wochen nach Berlin geschickt, um bei Toll Collect aufzuräumen.

Mihatsch gilt als höchst ambitioniert und hat Erfahrungen mit technischen Großprojekten. Der inzwischen 62jährige hat dem Stahl- und Röhrenkonzern Mannesmann in den Neunzigerjahren den Einstieg in das Mobilfunk-Geschäft verschafft und damit zur Goldgrube gemacht.

Er wäre auch gern Chef des Mannesmann-Konzerns geworden. Nun bekommt er es eine Nummer kleiner - dafür sind die Probleme umso größer.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: