Tarifverträge:Notärztin Nahles

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Die Bundesarbeitsministerin verhindert ein Debakel in der Bauindustrie. Aber sie macht es auf riskante Weise: Sie umgeht das Urteil eines Obersten Gerichtshofs und macht die von den Richtern außer Kraft gesetzten Regeln eines Tarifvertrags zu einem Gesetz.

Von Detlef Esslinger

In der Politik hat man selten die Wahl zwischen einer guten und einer schlechten Alternative, dafür aber häufig zwischen einer schlechten und einer problematischen. Diese Erfahrung bestätigt sich gerade am Beispiel von Andrea Nahles, der Bundesarbeitsministerin. Ziemlich überraschend steht sie vor der Aufgabe, die Sozialkassen des Baugewerbes retten zu müssen. Die waren nicht durch etwaige Misswirtschaft in ihrer Existenz bedroht, sondern durch zwei unerwartete Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts.

Diese Sozialkassen, genannt Soka Bau, gibt es nur in dieser Branche, sie sind eine gemeinsame Einrichtung von Arbeitgebern und der Gewerkschaft IG Bau. Aufgrund einiger Besonderheiten am Bau wären Ausbildung, Urlaub und Renten ohne die Soka kaum zu finanzieren. Mehr als einer Million Menschen kommen ihre Leistungen zugute: nämlich allen Azubis, Arbeitnehmern und Rentnern der Branche. Die Soka Bau wurde einst geschaffen durch einen Tarifvertrag zwischen zwei Arbeitgeberverbänden und der IG Bau. Sie funktioniert nur, weil das Arbeitsministerium diesen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt hat. Das heißt: Auch all diejenigen Baufirmen, die keine Tarifverträge unterschrieben haben, müssen sich daran halten und Beiträge an die Soka Bau zahlen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts erklärte diese Allgemeinverbindlichkeitserklärung jedoch im September für unwirksam. Er fand, die gesetzlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt gewesen.

Hätte Ministerin Nahles nun sagen sollen: Mist, leider verloren, ist halt so? Hätte sie das Urteil tatenlos hinnehmen sollen? Das wäre die Entscheidung für die schlechte Alternative gewesen.

Nahles hat hingegen die problematische gewählt. Ihre Lösung ist eine, auf die zumindest im Arbeitsrecht noch niemand gekommen ist: Sie macht das Urteil eines Obersten Gerichtshofs zu Makulatur, indem sie schnell ein neues Gesetz schreiben lässt - ein Gesetz, in das sie den teilweise für hinfällig erklärten Tarifvertrag über die Soka Bau (plus alle dazugehörenden Neben-Tarifverträge) quasi hineinkopiert; ein Konvolut aus 712 Seiten. Obendrein drückt Nahles die Bestimmung in dieses Gesetz, dass die hineinkopierten Tarifverträge "unabhängig davon, ob die Tarifverträge wirksam abgeschlossen wurden", gelten.

Das ist eine Lösung, die das Prädikat "harter Schlag" verdient, das Nahles intern dafür verwendet hat: Die Ministerin nimmt Tarifverträge, die ihr Haus nicht hätte für allgemeinverbindlich erklären dürfen, und promoviert sie zum Gesetz. Solch eine Karriere war noch keinem Tarifvertrag vergönnt.

Die Ministerin wendet ein Debakel in der Baubranche ab. Aber auf höchst riskante Weise

Nahles hätte auch eine andere Möglichkeit gehabt. Sie hätte eine Verordnung auf Basis des Entsendegesetzes erlassen können und so den Tarifvertrag für alle Firmen am Bau verpflichtend gemacht. Das wäre eine Alternative zu der zu Fall gebrachten Allgemeinverbindlichkeitserklärung gewesen, die das geltende Recht ausdrücklich vorsieht. Das aber wollte Nahles nicht, aus naheliegendem Grund: Gegen eine Verordnung hätte wieder jemand nach Erfurt vor das Bundesarbeitsgericht ziehen können und womöglich zusätzlich prüfen lassen, ob die Soka-Tarifverträge eigentlich "wirksam" (also: rechtsgültig) abgeschlossen wurden. Diesem Risiko wollte sie die Sozialkasse und deren eine Million Geldempfänger nicht aussetzen. Gegen ein Gesetz hingegen hilft kein Gang nach Erfurt.

Für die Beschäftigten der Baubranche bedeutet Nahles' Gesetz vermutlich die Abwendung einer Katastrophe. Allerdings ist es auch noch etwas anderes: eine tückische Erfindung. Angenommen, in ein paar Jahren wird das Arbeitsministerium von einem eher neoliberalen Minister geführt. Nur mal weiter angenommen, der hält jene Tarifverträge für opportun, die einst die Pseudo-Gewerkschaft CGZP zur Leiharbeit abgeschlossen hatte und die das Bundesarbeitsgericht 2010 für unwirksam erklärte. Wird dieser Minister dann die Erfindung seiner Vorgängerin Nahles hervorkramen und sich denken, was die kann, kann ich auch - und zum Beispiel CGZP-Tarife zum Gesetz erheben?

Das Bundesarbeitsgericht hatte mit seiner Entscheidung einen sozialen Notstand in der Baubranche riskiert. Den hat nun die Notärztin Nahles verhindert. Die Methode, die sie wählte, riskiert indes Nebenwirkungen für lange Zeit.

© SZ vom 29.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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