"Wir haben in Deutschland eine dramatische Tarifflucht." So sieht es Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Die SPD-Politikerin wollte sich aber nicht damit abfinden, dass immer weniger Arbeitnehmer bei ihrer Bezahlung von Tarifverträgen profitieren. Seit 2015 gibt es deshalb nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie senkte die große Koalition auch die Hürden dafür, wann sich nicht tarifgebundene Betriebe Tariflöhne vorschreiben lassen müssen. Doch nun zeigt sich: Geholfen hat dies bislang nicht.
"Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge ist deutlich zurückgegangen." Besonders bei einfachen Tätigkeiten seien "die Tarifvertragsparteien oftmals nicht mehr selbst in der Lage, Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen", begründete 2014 die Bundesregierung ihr neues Gesetz. Besser werden sollte dies durch einen neuen Paragrafen. Darin legten Union und SPD fest, dass das Arbeitsministerium Tarifverträge einfacher für allgemein verbindlich erklären und damit Unternehmen verpflichten kann, sich an Tarifverträge zu halten.
Früher war dies nur möglich, wenn mindestens 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche schon unter Tarifverträge fallen. Diese hohe Hürde schaffte die Regierung ab. Jetzt muss es nur noch "im öffentlichen Interesse geboten" sein, den Tarifvertrag für allgemein gültig zu erklären, etwa bei einer "wirtschaftlichen Fehlentwicklung". Der Präsident der Familienunternehmer, Lutz Goebel sprach deshalb prompt von einem "Gummiparagrafen". Die Arbeitgeberverbände sahen die Gefahr, dass sich mit dieser Klausel grenzenlos Tarifverträge für nicht tarifgebundene Unternehmen vorschreiben lassen.
Neue Zahlen der Bundesregierung belegen nun, dass das Gegenteil eingetreten ist: Danach gab es zum 1. Januar 2014, kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes im August 2014, noch 496 für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge. Anfang 2016 waren es nur noch 444 Verträge, also gut zehn Prozent weniger. Dies teilte das Bundesarbeitsministerium auf Anfrage von Beate Müller-Gemmeke mit, der Sprecherin für Arbeitnehmerrechte bei den Grünen. Sie sprach von einem "Fehlschlag. Diese Reform hat die Erosion der Tariflandschaft nicht aufgehalten", sagt die Abgeordnete.
Woran das liegt, ist für Müller-Gemmeke auch klar: Das Ministerium kann Tarifverträge nur für alle in der jeweiligen Branche verbindlich machen, wenn der sogenannte Tarifausschuss sich ebenfalls dafür ausspricht. Darin sitzen je drei Vertreter der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber können also jederzeit ein Veto einlegen. Müller-Gemmeke fordert deshalb, die Veto-Option der Spitzenverbände im Tarifausschuss abzuschaffen. Stattdessen sollten die Tarifparteien aus den Branchen, die den Antrag eingereicht haben und darauf pochen, ihren Tarifvertrag für allgemein verbindlich zu erklären, "stimmberechtigt in die Beratungen einbezogen werden", sagt die Grünen-Politikerin.
Die Arbeitgeber halten von dem Verfahren aber nicht mehr viel: Anfang der Neunzigerjahre waren fünf Prozent der etwa 70 000 Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt worden. Inzwischen sind es nicht einmal ein Prozent. Überhaupt haben Tarifverträge zuletzt stark an Wirkungskraft verloren ( Grafik). Das ärgert vor allem die Gewerkschaften. Der DGB argumentiert: Es dürfe keine Geschäftsmodelle geben, die auf überdurchschnittlich niedrigen Löhnen basieren. Es müsse doch im Interesse der tariftreuen Unternehmen sein, dass solche Konkurrenten auch Tariflöhne zahlen.