Streiks in Ostdeutschland:In der Freizeit-Falle

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Normalerweise können Streikende in der deutschen Öffentlichkeit mit Sympathie rechnen. Seit aber bei BMW und Volkswagen im Westen die Bänder still stehen, weil die IG Metall Betriebe im Osten lahmlegt, hat sich das Klima gedreht.

Nikolaus Piper

(SZ vom 24.06.2003) — Ein Streik, ausgerechnet in der Krise, ausgerechnet in Ostdeutschland und ausgerechnet für die 35-Stunden-Woche, die auch viele Gewerkschaftsmitglieder nicht wollen - die Gewerkschaftsführung scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein.

Streiken für die Vernichtung der eigenen Arbeitsplätze

Die Produktionsausfälle in Regensburg, München und Wolfsburg haben dafür gesorgt, dass der Arbeitskampf auf die ersten Seiten der Tageszeitungen gekommen ist, aber man sollte dies nicht überbewerten. Produktionsausfälle lassen sich aufholen, und vielleicht ist man bei VW angesichts sinkender Absatzzahlen gar nicht so unglücklich, wenn in den nächsten Wochen ein paar Golfs weniger auf dem Hof stehen.

Die Opfer des Streiks sind daher nicht die west-, sondern die ostdeutschen Arbeitnehmer. Und dies auch nicht so sehr wegen der unmittelbaren, sondern wegen der langfristigen Folgen für den Fall, dass der Ausstand Erfolg haben sollte.

Im Grunde streiken die Ost-Metaller für die Vernichtung ihrer eigenen Arbeitsplätze. Die Arbeitsproduktivität liegt in den neuen Bundesländern durchschnittlich immer noch um rund ein Viertel niedriger als in den alten.

Gemessen daran sind die Tariflöhne zu hoch. Die längeren Arbeitszeiten gleichen das teilweise wieder aus, weil sie die Arbeitsplanung beweglicher macht. Entfällt dieser Vorteil, kann das nicht ohne Folgen für die Beschäftigung bleiben.

Die IG Metall vernebelt den Zusammenhang durch missverständliche Zahlen über angebliche Kostenvorteile ostdeutscher Metallbetriebe. Doch selbst wenn es derartige Kostenvorteile gäbe, die IG Metall müsste sie mit Zähnen und Klauen verteidigen, wenn sie denn im Interesse ihrer Mitglieder handeln würde.

Fehler in der Gewerkschaftsstrategie

Nur mittels solcher Vorteile lassen sich Investoren in den Osten locken, nur so entstehen neue Arbeitsplätze, nur so entsteht Spielraum für verdiente Lohnerhöhungen.

Es sei nicht einzusehen, argumentiert die IG Metall, dass die Deutschen im Osten auf ewig länger arbeiten müssten als ihre Landsleute im Westen. Aber was hat denn den Westdeutschen die 35-Stunden-Woche gebracht? Deutschland hat heute die kürzesten Arbeitszeiten und das niedrigste Wachstum in der EU, die Beschäftigtenzahlen werden im internationalen Vergleich immer schlechter, die Arbeitslosigkeit wird sich im nächsten Winter der Marke von fünf Millionen nähern. Am Anfang des Kampfes für die 35-Stunden-Woche stand in den achtziger Jahren das Versprechen, durch Umverteilung von Arbeit neue Jobs zu schaffen. Dies Versprechen ist ganz offensichtlich nicht eingelöst worden.

Der Grundfehler der IG-Metall-Strategie war es, von betriebs- auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge kurzzuschließen. Tatsächlich kann ein Betrieb seinen Mitarbeiterstamm durch eine Krise retten, wenn alle eine Zeit lang weniger arbeiten und weniger verdienen. Dafür gibt es viele positive Beispiele.

Aber in einer ganzen Volkswirtschaft funktioniert das nicht. Verzichten die Arbeitnehmer für die Freizeit auf einen sonst möglichen Lohnzuwachs, dann kostet dies Nachfrage und Wachstum. Wird die Arbeit ohne Lohnausgleich verkürzt, dann steigen die Kosten, was direkt Arbeitsplätze kostet. Betriebe können der Belastung der 35-Stunden-Woche teilweise durch Arbeitsverdichtung begegnen; aber genau dies schafft keine Jobs.

Allgemeiner ausgedrückt: Seit den achtziger Jahren haben sich die Deutschen sukzessive für mehr Freizeit und mehr Sicherheit und gegen mehr Wachstum ausgesprochen, also für die Gegenwart und gegen die Zukunft. Das Drama hat sich noch verschärft, als dieses Modell nach 1990 auf die ehemalige DDR übertragen wurde. Jetzt zeigt sich, dass der Weg ein Irrweg war und die Nation schleunigst umkehren sollte.

In Wirklichkeit müssen die Deutschen nicht weniger, sondern mehr arbeiten. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat das Thema zu Recht aufgegriffen, wenn auch am falschen Objekt. Es wäre sinnvoller, wieder 40 Stunden in der Woche zu arbeiten, als traditionsreiche Feiertage aufzugeben, nur um dem Streit mit den Gewerkschaften aus dem Weg zu gehen.

Die Deutschen brauchen auch mehr Wirtschaftswachstum, nicht für mehr Luxuskonsum, sondern zum Beispiel um ihr Gesundheitssystem überlebensfähig zu machen, um das Bildungssystem zu erneuern und einen produktiven Kapitalstock zu schaffen - die beste Versicherung gegen negative Folgen des demographischen Wandels.

Und dazu müssen sie mehr arbeiten. Viele Gewerkschafter finden allein den Gedanken an eine Verlängerung der Wochen- und/oder Lebensarbeitszeit empörend. Und doch wird daran kein Weg vorbeiführen. Die Arbeitgeber könnten das Umdenken erleichtern, zum Beispiel durch mehr Flexibilität. Ein Arbeitnehmer, der wirklich weniger arbeiten und dafür auf Gehalt verzichten will, der sollte dies können. Hier müssen viele Personalchefs noch dazulernen.

So oder so - das Experiment 35-Stunden-Woche muss beendet werden. Und wenn diese Einsicht durch den Streik in Ostdeutschland befördert wurde, dann hat er wenigstens etwas Gutes bewirkt.

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