Streiks bei der Bahn:"Ein Notbetrieb muss möglich sein"

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Wann ist ein Streik erträglich - und wann nicht mehr? Warum die Streikverbote für Lokführer so problematisch sind, erläutert Rechtexperte Thomas Lobinger.

Hans von der Hagen

Nachdem die Bahn die Streiks der Lokführer am Freitag mit Ersatzfahrplänen gekontert hatte, ändert die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) die Strategie: Die Zeit zwischen Ankündigung und Beginn eines Streiks wird deutlich verkürzt.

(Foto: Foto: dpa)

Rechtsexperte Thomas Lobinger, Professor an der Universität Heidelberg, über die Risiken von Spontanstreiks und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

sueddeutsche.de: Künftig könnten die Arbeitsniederlegungen bei der Bahn die Reisenden eher unvermittelt treffen. Droht damit den Streiks nicht erst recht ein gerichtliches Verbot?

Thomas Lobinger: Zunächst müssen wir festhalten, dass die Tarifverhandlungen gescheitert sind und nach der Verhandlungsphase die Kampfphase kommt. Theoretisch. Da heute aber in der Praxis alles durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überlagert wird, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Gericht den Streik verbietet. Bei einem Spontanstreik lassen sich keine Notfallpläne mehr erstellen, die die Folgen des Arbeitskampfes mildern würden.

sueddeutsche.de: Warum haben derzeit die Gerichte einen derart großen Einfluss? Der Ärztestreik hat die Patienten auch hart getroffen - verboten wurde er nicht.

Lobinger: Weil von vorneherein klar war, dass Notfallpläne vorhanden sein müssen, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren: Der Streik durfte nicht dazu führen, dass Patienten sterben.

sueddeutsche.de: Und wie wird die Verhältnismäßigkeit bei der Bahn gewahrt? Muss es Notfallpläne geben? Leib und Leben sind ja nicht gefährdet.

Lobinger: Das lässt auch die Experten rätseln. Eines ist sicher: Unverhältnismäßig wäre es dann, wenn der Gegenspieler der Lokführer - die Bahn - totgestreikt würde. Hier gilt das Verbot des Vernichtungsstreiks. Bei den Interessen Dritter aber - den Bahnkunden - ist die Frage völlig offen. Finanzielle Schäden sind zunächst nicht unverhältnismäßig, sondern treten immer auf. Ansonsten würde ein Streik gar nicht wirken.

sueddeutsche.de: Auch dann, wenn die Schäden bei Dritten größer sind als bei dem Bestreikten?

Lobinger: Das geht sehr schnell. Wenn bei einem Zulieferer in der Automobilindustrie gestreikt wird, stehen die Bänder bei den Autoherstellern still. Da ist der Schaden weit größer als bei dem Zulieferer selbst. Bei den Bahnstreiks hingegen lässt sich der Schaden gar nicht beziffern.

sueddeutsche.de: Genau das aber suggerieren die Streikverbote für die Lokführer: Der volkswirtschaftliche Schaden würde unverhältnismäßig groß werden.

Lobinger: Das macht die Entscheidungen der Gerichte so angreifbar. Erst hieß es, in der Reisezeit dürfe nicht gestreikt werden. Jetzt durfte im Nahverkehr gestreikt werden, obwohl das gerade die Pendler traf, die zur Arbeit wollten. Im Fernverkehr wiederum durfte nicht gestreikt werden. Was also verhältnismäßig ist und was nicht, bleibt unklar.

sueddeutsche.de: Würde die GDL zu weit gehen, wenn Züge auf offener Strecke einfach stehenblieben?

Lobinger: Da müsste ein Gutachter sagen, welche Gefahren drohten. Ich bin der Meinung, dass selbst bei Spontanstreiks ein Notbetrieb auf der Schiene stattfinden muss. Auch im Straßenverkehr dürfen nicht plötzlich alle Wege blockiert werden. Wie nun ein Notfallplan aussieht - ob 30 Züge genügen, 150 oder zwei - kann ich nicht sagen. Das muss ein Richter entscheiden.

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