Spätfolgen:Narben einer Nation

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Ein Waisenhaus bei Hanoi: "Agent Orange" ist bei vietnamesischen Kindern bis heute für Verkrümmungen, Wasserköpfe und Missbildungen verantwortlich. (Foto: Luong Thai Linh/dpa)

Vierzig Jahre nach dem Ende des Kriegs leiden die Kinder im Vietnam noch immer an einer Chemiewaffe der Amerikaner.

Von Arne Perras, Ho Chi Minh City

Das Mädchen wirkt aufgedreht. Nguyen Le Thu Thao rutscht ständig auf dem Boden hin und her. Dann kriecht sie plötzlich unter einen Metalltisch und kommt nicht mehr heraus. Wer versucht, mit der Neunjährigen zu sprechen, bekommt keine Antwort. Manchmal verzieht sie das Gesicht, als würde sie lachen. Was sie wohl fühlt? Das Mädchen kann nicht sprechen. Sie hat einen verkümmerten Unterleib. Und keine Beine.

Alle anderen Kinder im Zimmer liegen mit verkrümmten Gliedmaßen auf den Matratzen, manchmal ist ein leises Stöhnen zu vernehmen. Einige haben Schläuche in den Nasen. Ein Junge in der Ecke kann nichts sehen, er hat zugewachsene Augen. Ein anderer hat einen Wasserkopf, fast halb so groß wie der ganze Körper. "Viel können wir für diese Kinder nicht tun", sagt Kinderärztin Nguyen Thi Phuong Tan. Gliedmaßen massieren, um Schmerzen zu lindern. Mit ihnen sprechen. Sie spüren lassen, dass noch jemand da ist für sie.

Für eine vollständige Genesung stehen die Chancen auch in dritter Generation gleich null

Manchmal gelingt eine Operation, um die Folgen der Missbildungen zu lindern. Aber heilen? "Da gibt es keine Chance", sagt die 56-jährige Vietnamesin. Im Rückgebäude des Tu Du Krankenhauses in Ho Chi Minh Stadt sind alle Patienten schwerstbehindert. In den vorderen Zimmern des dritten Stockwerks liegen die jüngsten, weiter hinten die etwas älteren. "Diese Kinder leiden unter den Folgen des Giftes Agent Orange, sie sind Opfer in zweiter und dritter Generation", sagt die Ärztin.

Viele Forscher halten diese Einschätzung längst für wissenschaftlich plausibel, auch wenn es schwer ist, die kausalen Zusammenhänge im Einzelfall nachzuweisen. Entschädigungen haben die Familien niemals bekommen. Und längst nicht alle, die so leiden, erhalten die Hilfe, die sie brauchen. Die Medizinerin beruft sich auf vietnamesische Schätzungen, wonach drei bis vier Millionen Menschen Schäden durch den Gifteinsatz erlitten. Mindestens 150 000 Kinder sind seither mit Behinderungen auf die Welt gekommen.

Der Vietnamkrieg ging mit dem Fall von Saigon am 30. April 1975 zu Ende. Das giftige Erbe von Agent Orange aber wirkt auch vier Jahrzehnte später noch nach, wie man im Tu Du Krankenhaus sehen kann. Die Bilder aus dem dritten Stock der Klinik, sie bleiben im Gedächtnis. US-Truppen versprühten damals Dioxin-haltige Chemikalien als Entlaubungsmittel über den Wäldern, es wurde als Agent Orange bekannt, benannt nach den Farbstreifen auf den Fässern. Trotz der verheerenden Einsätze waren die Armee der Nordvietnamesen und die kommunistische Guerillatruppe der Vietcong nicht zu besiegen. Hanoi schlug Saigon. Die Supermacht Amerika war mit ihrer im Kalten Krieg geborenen Strategie militärisch wie politisch gescheitert.

Die Kinder im Tu Du Krankenhaus haben oftmals Eltern, die selbst keine Zeichen einer Krankheit erkennen lassen. Aber die Familien kommen aus Gegenden, in denen Agent Orange massiv zum Einsatz kam. Die meisten der Behinderten bekommen selten Besuch, manche nie. Oft leben die Eltern leben weit weg, sind überfordert. Oder haben ihre Kinder schon aufgegeben. Die haben jetzt nur noch das Team um Doktor Nguyen.

Die Kinderärztin wollte nie etwas anderes tun, als sich um diese Patienten kümmern. Als sie nach dem Studium anfing zu arbeiten, das war 1988, konnte sie kaum glauben, was sie sah. "Diese Kinder waren ein Schock für mich," sagt sie. "Und es ist nicht leicht, wenn man weiß, dass man ihnen kaum helfen kann." Die tiefe Traurigkeit, sie kommt immer wieder. Aber dennoch macht sie immer weiter.

Dioxin zerstört das Leben der Menschen. Und eine Katastrophe für die Umwelt ist es auch. Damit kennt sich der vietnamesische Forstexperte Phung Tuu Boi aus. Er war nach dem Krieg damit beschäftigt, die betroffenen Wälder zu kartieren. Für ihn war das ein Desaster, dessen Ausmaße ihm im Laufe der Jahre immer gespenstischer vorkamen. Bei einem Besuch in Hanoi kramt er in seinen Fotos und zieht ein Bild heraus, das damals der amerikanische Forstwissenschaftler Michael Newton aus der Luft gemacht hatte und ihm später bei einem Treffen schenkte. Eine schwarzweiße Luftaufnahme, März 1972, etwas vergilbt. Wald in der Provinz Tay Ninh, dreifach besprüht. Oben waren die Äste schon kahl, aber unten hielt sich immer noch das tropische Dickicht.

"Das gibt eine Vorstellung davon, wie viel man tatsächlich sprühen musste, um das alles komplett zu entlauben", sagt der vietnamesische Forstmann. Etwa ein Viertel der Fläche Südvietnams wurde mit Herbiziden besprüht, um Ernten zu vernichten oder um die Guerilla auf ihren Versorgungspfaden aufspüren zu können: 80 Millionen Liter Dioxin-haltige Herbizide, 60 Prozent davon waren Agent Orange - eine der giftigsten Substanzen der Welt.

1976 schockierte die Katastrophe von Seveso die Welt, danach bekam auch Phung Tuu Bo genauere Informationen über das Dioxin und die Auswirkungen des Gifts. "Wir wussten anfangs ja gar nicht, was das für Folgen haben würde." Später hat er es gesehen. Nun versuchen die Vietnamesen wieder aufzuforsten. Sie tun es oft mit Akazien. "Aber es wäre viel besser, unsere einheimische Bäume wieder hochzubekommen", sagt Phung Tuu Bo. Die Schweiz hätten ihnen beim Aufforsten schon geholfen. Und die Japaner. Auf die Amerikaner warten sie noch. "Wälder brauchen eine lange Zeit", sagt Phung Tu Boi. Die Hoffnung hat er noch nicht aufgegeben.

© SZ vom 30.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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