Silicon Valley:Ein Yang für das Tal

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(Foto: N/A)

Das Leistungsprinzip gilt in Nordkalifornien am Arbeitsplatz ebenso wie in der Freizeit. Manche Menschen halten diesem wachsenden Druck aber nicht stand. Was ihnen helfen könnte? Dort ist die Antwort klar: natürlich Apps.

Von Alina Fichter

Martin ist Gründer und technischer Direktor eines Start-ups; eine Uhr am Handgelenk zählt jeden seiner Schritte, deshalb ist er ständig in Bewegung. Simon, Philanthropist, steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um eineinhalb Stunden auf dem Laufband zu trainieren. Und Alberto prahlt damit, jeden Monat zwei Bücher zu lesen.

Die drei Männer übertragen das Leistungsprinzip ihrer Arbeitstage auf ihr ganzes Sein. Es ist ein Kult im kalifornischen Silicon Valley. Hätte er ein Glaubensbekenntnis, es würde so lauten: "Gehe über alle Grenzen hinweg, wenn du dein Start-up optimierst - und dich selbst." Viele steigern ihre körperliche und geistige Leistung so, erst einmal. Einigen wird der Daueranspruch irgendwann zu viel, aber über die Ausgebrannten schweigt das Valley. Lieber weist es angebliche Wege aus Schwächephasen, auf Valley-Art: Nicht durch weniger Druck. Sondern mit mehr Technologie, die hilft, dem Druck besser standzuhalten.

Das Silicon Valley, gelegen im Süden von San Francisco, ist das Innovationszentrum der Erde. Wer hierherzieht, ist überzeugt, die Welt verbessern zu können - und den Kontostand. Die meisten kommen frisch von einer Elite-Universität, sind Mitte 20, männlich und haben eine Geschäftsidee. Spätestens wenn sie dafür ein paar Millionen Dollar von Risikokapitalgebern einwerben möchten, werden sie herausgefordert, ihre Idee fünfhundertfach größer zu denken, und die eigene Persönlichkeit gleich mit dazu: Nach dem Unmöglichen sollen sie streben, bekommen sie zu hören, denn das Menschenmögliche sei schon da. Das puscht das Selbstbewusstsein der jungen Kerle und heizt ihre Hoffnung an, das eigene Star-up werde den Alltag aller verändern.

Davon kann Deutschland lernen: Wer Kreative fördert, fordert und über vermeintliche Grenzen hinaus motiviert, ermöglicht die Innovation, die viele Branchen brauchen; die Digitalisierung fordert sie ein. Also lieber mal ein "los geht´s!" mehr als ein "geht nicht" zu viel.

Aber viele im Valley übertreiben es mit dem ewigen Weiter, Schneller, Mehr. Sie verinnerlichen das Leistungsprinzip so sehr, dass der Gegenpol zu ihrem Tagestempo in der knappen Freizeit nicht ein wenig Ruhe ist, sondern noch mehr Tempo. Das chinesische Yin-Yang-Prinzip des Ausgleichs zweier entgegengesetzter Kräfte wird im Valley anders gerechnet: Es wird zu einem Yin hoch zwei.

Martin zählt nicht nur seine Schritte, sondern die seiner ganzen Familie. Ein einjähriger Wettbewerb soll sie alle antreiben, mehr zu laufen. Simon steht in aller Herrgottsfrühe auf, weil er dringend täglich trainieren müsse, sagt er. Und Alberto liest weiterhin 24 Bücher pro Jahr, auch wenn Mark Zuckerbergs "book-challenge" längst ausgelaufen ist. Der Facebook-Chef hatte 2015 verkündet, er werde jede zweite Woche ein Buch lesen, jeder konnte die Titel auf seinem Facebook-Profil mitverfolgen. Viele seiner Anhänger folgten seinem Beispiel, das Viellesen wurde zu einer Mode im Valley.

Aber manchen Menschen reicht es von dem ewigen Druck, zum Beispiel einem Programmierer und Autor, der sich Shem nennt: "Fuck up Start-up world", schimpfte er auf dem Medium-Blog, also etwa: "Bleib mir fern mit dieser Start-up-Welt", und ließ sich fluchend über den Selbstmaximierungswahnsinn der Valley-Bewohner aus. "Hau mir bloß ab damit, jeden Tag ein Buch zu lesen, niemand kann so schnell lesen! Wie wäre es, wenn du das verdammte Buch stattdessen wirklich mal lesen würdest?", schrieb er - und entlarvte das gespielt lässige Kokettieren mit der Freizeitleistung.

Ein Tech-Spielzeug merzt alle Schwächen aus, bei maximaler Zeitersparnis

Zigtausendfach wurde Shems Artikel geteilt und kommentiert, es entstanden Videos und Podcasts des Textes, weil sich so viele Bewohner von Palo Alto, Menlo Park und Mountain View in seinen Worten wiederfanden. Zuletzt wandte sich Shem mit einer Bitte an den Leser: "Tu mir einen Gefallen, leg jetzt deinen verdammten Mac beiseite und spiel mit deinen Kindern." Seiner Aufforderung dürften nur wenige gefolgt sein. Denn wenn im Valley ein Problem identifiziert ist, ist die typische Reaktion eben nicht Einkehr, Muße oder mit den Kinder zu spielen - sondern das Tüfteln an einer technologischen Lösung.

Ein Start-up namens Thync preist sein Produkt als eine solche Lösung an. Für 300 Dollar kann jeder vorübergehend zum Cyborg werden, zum Übermenschen. Die Hersteller werben damit, das Bewusstsein kurzfristig zu verändern: Ein handtellergroßes Dreieck am Kopf befestigt und mit einer Handy-App verbunden verspricht Instant-Energie für den, der schwächelt. Oder Entspannung für jenen, der für Entspannung keine Zeit hat. Winzige Elektroströme regen die Nervenzellen im Gehirn so an, dass kein Spaziergang um den Block mehr nötig ist, wenn das nächste Meeting einen kühlen Kopf erfordert - oder mehr Konzentrationsvermögen, als der Körper an diesem Tag abliefert. Es ist ganz nach dem Geschmack der Valley-Bewohner: Ein Tech-Spielzeug merzt alle Schwächen aus, bei maximaler Zeitersparnis. So wird das Tempo weiter hochgehalten, notfalls künstlich.

Seit einem Jahr gibt es das Start-up, und das Produkt hat es schon in die Lifestyle-Zeitschrift Vanity Fair geschafft: in eine Rubrik, die neue Kultprodukte anpreist. Viele Läden im Valley haben es auf Vorrat. Bloß: Nachhaltig ist die Idee der Energieschübe auf Knopfdruck natürlich nicht. Jeder Mensch braucht Regenerationsphasen, um langfristig gut zu arbeiten - und zu leben. Das sollten auch die Hyper-Motivierten im Valley erkennen. Sonst verschleißen sie das, worauf die bemerkenswerte Innovationskraft fußt: die Kreativität ihrer Mitarbeiter.

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Alina Fichter und Ulrich Schäfer im Wechsel.

© SZ vom 28.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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