Ständig wird Deutschland vorgeworfen, es exportiere zu viel. Dabei führt die Bundesrepublik auch einiges ein. Das ist nur manchmal schwerer zu beziffern als der Wert eines Autos. Aus Nordkalifornien etwa geriet eine Lebensart in den deutschen Alltag, die von uns einfordert, Erlebnisse nicht nur zu erleben, sondern sie auch zu fotografieren und zu manipulieren. Nur dann sammelt man nämlich "Likes", wird also von seinen Mitmenschen gemocht. Gleichzeitig sind unsere Arbeitstage "agil" geworden: Wo uns eine Aufgabe früher zu gelingen hatte, sollen wir nun plötzlich schnell scheitern.
Zum Glück können wir uns bald wieder entspannen. Denn gerade schwappt die nächste große Welle aus dem Silicon Valley herüber an unsere deutschen Schreibtische: die des Meditierens am Arbeitsplatz.
Schuld daran ist Peter Bostelmann. Als 39-Jähriger ist er von Hamburg nach San Francisco ausgewandert, um dort für den deutschen Softwarehersteller SAP als Projektmanager zu arbeiten. Seit zehn Jahren lebt er in der Technologie-Hauptstadt am Nordrand des Valley. Angekommen war der Wirtschaftsingenieur als effizienter Zahlenmensch, er passte ins Valley. Heute lautet Bostelmanns Titel "Director of SAP Global Mindfulness Practice". Achtsamkeitsdirektor. Bostelmann ist jetzt hauptberuflich dafür zuständig, SAP-Mitarbeitern weltweit beizubringen, wie man richtig entspannt: Augen zu, atmen, abschalten. Das glatte Gegenteil von dem, was die Silicon-Valley-Kultur ausmacht. Dort sind alle immer busy und beantworten Mails innerhalb von Sekunden. Auch morgens um vier.
Der Stanford-Professor David Kelley hatte einst die Innovationsmethode "Design Thinking" bei SAP eingeführt. Daraufhin wollten zahlreiche andere Unternehmen auch so "agil" arbeiten, weil der deutsche Softwarehersteller es auf diese Weise geschafft hatte, sich beständig zu erneuern. So ähnlich ist das heute mit Bostelmann und der Meditation. Er sagt, nach anfänglicher Skepsis habe sich seine Bewegung im Konzern zu einem "Flächenbrand" ausgeweitet, der jetzt auch auf andere Unternehmen überspringe, amerikanische wie deutsche.
Die Fähigkeit, sich am Stück zu konzentrieren, ist auf acht Sekunden gesunken
Bostelmann ist kein Mann der Übertreibung. Der Industriekonzern Thyssen-Krupp, das Technologieunternehmen Siemens und die Deutsche Telekom baten ihn kürzlich zu sich. Von 30 Dax-Unternehmen haben fünf ihn angesprochen und noch mal so viele kleinere Firmen. Zuletzt hat er einen TED-Talk in Berlin gehalten, Titel: "Die unerwartete Revolution in Organisation", damit meint er natürlich das Meditieren. Bostelmann ist jetzt berühmt in seiner Heimat. Er sagt: "Manchmal muss ich bei all den Anfragen aufpassen, mein eigenes Meditieren nicht zu versäumen."
Gerade reist Bostelmann durch Deutschland, um mit interessierten Konzernen zu überlegen, wie sie ihren Mitarbeitern das Meditieren nahebringen können. "Hilfe zur Selbsthilfe", nennt Bostelmann das, er kann ja nicht alle Deutschen trainieren.
Allerdings stellt sich dann doch die Frage: Wenn alle gemeinsam ein- und ausatmen - was, bitte schön, ist der Return on investment, also die Rendite für die Firma? "Bei SAP liegt die bei 200 Prozent", sagt Bostelmann nüchtern. Er meint damit: Die 4500 SAP-Mitarbeiter, die geschult worden sind, sind laut einer Studie nachweislich seltener krank, engagierter, fokussierter, kreativer und kommen besser mit ihren Chefs klar als die restlichen 75 500.
Bostelmann mag Zahlen noch immer. Das Programm sei fünf Jahre alt, sagt er, 5500 SAPler stünden auf der Meditations-Warteliste. Sie müssen erst einmal geduldig alleine atmen. 24 Trainer und 50 Botschafter an 20 Standorten unterstützen ihn. "Der Tennisspieler Novak Djokovic kann seine Emotionen unter Druck besser regulieren, weil er meditiert", sagt Bostelmann. Er macht Meditation so zu etwas, das die Starken stärker macht, nicht etwas, was Schwächlinge brauchen.
Bostelmann spricht die Sprache, die Chefs verstehen, sie wollen jetzt haben, was er bei SAP aufgebaut hat. Deshalb holen sie ihn, der selbst schon lange meditiert, aber eben kein esoterischer Aussteiger ist. Sondern ein Typ in Jackett.
Als solcher hat Bostelmann den Alltag bei SAP verändert. Viele Meetings beginnen jetzt mit einer Minute Atmen. "Erdung" nennt Bostelmann das: Er kann auch Achtsamkeitsdeutsch. Danach bewusst zurück ins eigene Büro laufen. Bewusst das Handy ausschalten. Dann aber bitte auch wieder an!
Die Fähigkeit, sich am Stück zu konzentrieren, ist laut einer Microsoft-Studie zwischen 2000 und 2013 von zwölf auf acht Sekunden gesunken. Ein Goldfisch schafft neun. Die Silicon-Valley-Welt dreht sich besonders schnell. Die Smartphones, deren Pingen uns zu ewig Abgelenkten macht, wurden dort erfunden. Klar, dass sich hier auch zuerst das Bedürfnis einstellt, dem Goldfisch wieder zu entwachsen. Das Bedürfnis also, noch effizienter zu werden, sich noch schneller zu drehen - und, wenn es hilft, eben auch durch Meditation.
Bostelmann orientierte sich 2012 an Chade-Meng Tan, der bei Google den Titel "Jolly Good Fellow", famoser Kerl, trug. Er brachte den Programmierern das Meditieren bei, schrieb einen Bestseller namens "Search inside yourself" und gründete ein gleichnamiges Institut. Inzwischen werden bei SAP deutlich mehr Menschen im Meditieren unterrichtet als bei Google
Und das soll erst der Anfang sein. Bis in die Fünfzigerjahre galt Sport treiben als ungewöhnlich. Heute prägen Jogger das Stadtbild. "Genauso wird das bald mit den Meditierenden sein", glaubt Bostelmann. Menschen im Schneidersitz in Parks. Pendler, die in der U-Bahn die Augen schließen und ruhig atmen - statt auf dem Smartphone Fotos mit Filtern zu überziehen und auf Likes zu warten.