Siemens in den USA:Preisfrage

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Ein Knochenjob: Ölförderung in Midland, Texas. (Foto: Brittany Sowacke/Bloomberg)

Für viel Geld hat sich Siemens den Kompressorhersteller Dresser-Rand gesichert. Geld. Teurer Flop? Oder weitsichtige Investition? Das hängt am Ölpreis.

Von Claus Hulverscheidt, Houston

Lisa Davis zögert kurz, dann holt sie Luft - und tappt in die Falle. Ob der Siemens-Konzern eigentlich darüber nachdenke, in den USA oder anderswo auf der Welt weitere Energiezulieferer zu übernehmen, will einer ihrer Gesprächspartner von der Topmanagerin wissen. Schließlich hätten wegen der niedrigen Öl- und Gaspreise selbst renommierte Unternehmen deutlich an Wert verloren und seien entsprechend günstig zu haben.

Davis, die als erstes Siemens-Vorstandsmitglied das Energie-Geschäft des Konzerns von Texas aus führt, blickt in die kleine Runde, die sich im Konferenzraum des unscheinbaren Bürohauses im Westen von Houston versammelt hat. Nein, nein, wiegelt sie dann ab, ihr Konzern sei mit seinen Turbinen, Kompressoren, Elektromotoren und den vielen anderen Komponenten für die Öl- und Gasindustrie bestens ausgerüstet und benötige deshalb keine Zukäufe. Allerdings, so schiebt die 51-Jährige hinterher: "Wenn man zukaufen wollte, dann wäre das sicher jetzt ein guter Zeitpunkt."

So ist es - und weil das so ist, lässt sich Davis' Aussage auch umdrehen: Aus heutiger Sicht hat Siemens für den Kauf des texanischen Kompressorherstellers Dresser-Rand im vergangenen Jahr zu viel Geld ausgegeben, viel zu viel. Stünde das Unternehmen heute zum Verkauf, dann würde es trotz aller Profitabilität und der tiefen Verankerung in der amerikanischen Energieindustrie statt 7,8 Milliarden Dollar wohl zwei, drei Milliarden weniger kosten.

Mit den Kompressoren lässt sich Gas verflüssigen und durch eine Pipeline schicken

Nun ist das Hinterher-ist-man-immer-schlauer-Spielchen ein unter Experten sehr beliebtes - wäre es das allein, könnte Siemens-Konzernchef Joe Kaeser das Genörgel herzlich egal sein. Rein strategisch gesehen nämlich teilen die meisten Fachleute seine Ansicht, dass sich beide Unternehmen gut ergänzen: So ist Siemens etwa in der Automation und bei großen Dampf-und Gasturbinen stark, mit deren Hilfe sich in Kraftwerken Strom erzeugen lässt. Dresser dagegen glänzt bei kleineren Turbinen und Kompressoren. Sie können etwa dafür eingesetzt werden, Gas zu verflüssigen oder durch eine Pipeline zu schicken.

Doch trotz aller Logik: Der Kaufpreis, der in heimischer Währung gerechnet seit dem Juni letzten Jahres ja sogar noch um mehr als eine Milliarde auf rund 6,9 Milliarden Euro gestiegen ist, galt vielen Analysten und Aktionärsvertretern schon damals als sehr gewagt. Er werde sich nur rechnen, so der Tenor nach Kaesers Entscheidung, wenn der Boom auf dem Öl- und Gasmarkt weiter gehe. Seither jedoch ist der Preis für ein 159-Liter-Fass der US-Ölsorte WTI von über 100 auf nur noch gut 45 Dollar gefallen. Viele Ölfirmen stehen deshalb unter großem Druck und beginnen damit, den Kauf neuer Dresser-Rand-Maschinen zu verschieben. Vermutungen, Siemens werde in der Konzernbilanz schon bald erhebliche Abschreibungen auf den Wert des Tochterunternehmens vornehmen müssen, weist Davis dennoch weit von sich.

Überhaupt hält man in München die Sichtweise der Kritiker für ebenso kurzsichtig wie kleinkariert - und versucht, kräftig gegenzusteuern. So verweist man darauf, dass der Konzern zwar sehr wohl Opfer des niedrigen Öl- und Gaspreises sei, aber auch Nutznießer. Tatsächlich beliefern Siemens und Dresser-Rand nicht nur die derzeit leidenden Ölförderer, sondern auch Pipelinebetreiber, Raffinerien, petrochemische Anlagen und andere Firmen der verarbeitenden Industrie. Ihr Geschäft boomt mehr denn je, denn sie alle können wegen des Preisverfalls derzeit so günstig produzieren wie selten zuvor.

Hinzu kommt: Turbinenhersteller verdienen nicht nur am Verkauf ihrer Geräte, vielmehr wirft die anschließende Wartung der Maschinen oft noch einmal ein ähnlich hübsches Sümmchen ab. Entsprechend stolz verweist man in München auf die Mitgift der Dresser-Übernahme: Durch den Kauf der Texaner steigt die Zahl der installierten Anlagen, die teils über 30 Jahre in Schuss gehalten werden müssen, konzernweit um etwa 95 000 auf 120 000 an. Tim Holt, der künftige Chef der Siemens-Abteilung Power & Gas, geht davon aus, dass der Service-Bereich bis 2019 branchenweit jedes Jahr um zwei Prozent auf 210 Milliarden Dollar wachsen wird - trotz des Ölpreisverfalls. Und sein Dresser-Rand-Kollege Luciano Mozzato ergänzt: "Gewartet werden müssen Maschinen immer -auch wenn die Konjunktur mal nicht so läuft."

Mittelfristig hofft man bei Siemens allerdings sehr wohl darauf, dass die Goldgräberstimmung, die die US-Energiebranche mit dem Beginn der groß angelegten Ausbeutung von Schiefergas und -öl vor etwa zehn Jahren erfasst hatte, möglichst bald zurückkehren wird. Seit Beginn des Booms steht in der Branche kein Stein mehr auf dem anderen: Das arabische Erdölkartell Opec hat seine Macht, weltweit die Preise zu diktieren verloren, die USA, einst weltweit größter Heizstoffimporteur, werden 2016 erstmals seit Jahrzehnten wieder Gas, möglicherweise auch Öl, exportieren.

Wie gewaltig die Veränderungen sind, zeigt der Fall der "Transco"-Pipeline, die Gas vom Golf von Mexiko über Alabama, Pennsylvania und eine Reihe weiterer Bundesstaaten bis ins 2500 Kilometer entfernte New York befördert. Mehr als fünf Jahrzehnte lang war die Pipeline eine Einbahnstraße von Südwest nach Nordost - bis ausgerechnet die Betreiber von Raffinerien und Petrochemieanlagen im Golf-Staat Alabama Schiefergas aus Pennsylvania für sich entdeckten: Es ist schlicht nur halb so teuer wie einige der texanischen Konkurrenzprodukte. Nun will der Transco-Betreiber Williams in einer der bis zu sechs Röhren die Schubumkehr einschalten - mit, so hoffen zumindest Siemens und Dresser-Rand, Maschinen des neuen deutsch-amerikanischen Kompressorherstellers.

Um die Verankerung in den USA nicht zu verlieren, bleibt die neue Tochterfirma eigenständig

So sehr der Boom bei Schiefergas und -öl Siemens genutzt hat, so sehr betonen Topmanager wie Davis immer wieder, dass der Konzern auch nach dem Kauf von Dresser-Rand "selber nicht im Fracking-Geschäft tätig ist". Wohl mit Blick auf die kritische Stimmung daheim. Zwar können die Motoren, Turbinen und Kompressoren beider Unternehmen auch beim Bohren in Schiefergestein verwendet werden. Meist jedoch setzen sie die Kunden eher beim Transport, bei der Raffinierung und der Speicherung ein.

Um vom guten Namen und der tiefen Verankerung von Dresser-Rand in den USA zu profitieren, wird das neue Tochterunternehmen im Gegensatz zu vielen früheren Zukäufen nicht einfach im Konzern aufgehen, sondern eigenständig bleiben. Dahinter steht die Hoffnung, dass es gelingt, alteingesessenen Dresser-Kunden in Zukunft auch Siemens-Produkte zu verkaufen - und umgekehrt. Die wenigen Überschneidungen bei Produkten und Standorten, die es gibt, sollen binnen weniger Monate bereinigt werden. Dabei ist - Davis sagt das nicht so, dementiert es aber ausdrücklich auch nicht - ein weiterer Stellenabbau nicht gänzlich ausgeschlossen, womöglich auch in Deutschland.

Ob der Kauf von Dresser-Rand als teurer Flop oder als jene strategisch weitsichtige Entscheidung in die Siemens-Geschichte eingehen wird, als die Kaeser und Davis sie feiern, wird sich erst in vielen Jahren erweisen. Viel wird dabei auch von der weiteren Entwicklung des Ölpreises abhängen, denn so richtig es ist, dass Deutschlands Industriekonzern unter der Billigphase nicht nur leidet, sondern auch von ihr profitiert: Sollte ein Fass Rohöl in fünf oder zehn Jahren immer noch 45 Dollar kosten, werden gerade in den USA vielen Siemens-Kunden finanziell die Lust verlieren.

Offiziell geht man in München wie in Houston davon aus, dass die Preise angesichts einer weltweit steigenden Nachfrage spätestens 2017 wieder anziehen werden. Wie viel solche Prognosen allerdings wert sind, weiß auch Kaesers immer noch recht neue Energiemanagerin nicht. "Zum Ölpreis", das hat Davis gleich zu Beginn ihres Gesprächs mit einer Handvoll Journalisten in Houston klar gestellt, "sag' ich gar nichts: Jeder, der heute eine Zahl nennt, wird am Ende damit daneben liegen."

© SZ vom 17.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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