Siemens-Chef Joe Kaeser::"Was wird aus den Menschen?"

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Protest vor dem Siemens Palais in München: Anstatt Geld in den Personalabbau zu stecken, sollte der Konzern besser in die guten Fachkräfte und die Standorte investieren, fordert die IG Metall. (Foto: imago/DeFodi)

Der Konzern meldet einen Milliardengewinn, gleichzeitig sollen in der Kraftwerkssparte Tausende Jobs wegfallen. Die Arbeitnehmer sind empört und kündigen Widerstand an.

Von Thomas Fromm, München

Man kann die Lage bei Siemens an diesem Tag an zwei Farblagern fest machen: schwarz-grau und rot. Rot sind die Fahnen und einige Jacken der IG-Metaller, die schon morgens um acht Uhr vor der Konzernzentrale am Wittelsbacher Platz in München stehen und gegen die Kürzungspläne des Managements in der Kraftwerkssparte und im Geschäftsfeld Prozessindustrie und Antriebe demonstrieren. Sie halten ein Plakat mit den Bildern von 600 Mitarbeitern hoch, darauf steht: "Was wird aus den Menschen?"

Schwarz und grau sind die Anzüge und Kostüme der Menschen, die um diese Zeit auf dem Weg in ihre Büros in der Firmenzentrale sind. Während die Schwarzgrauen über den Platz in Richtung Haupteingang gehen, schauen sie manchmal in Richtung der Gruppe der Roten. Die aber bleibt unter sich.

Die Arbeitnehmer demonstrieren, weil in der Kraftwerkssparte massiv gespart werden soll. Das Geschäft mit großen Kraftwerksturbinen läuft nicht mehr rund in Zeiten der Energiewende, und es dürfte sich in einigen Jahren überhaupt nicht mehr lohnen. Ein schrumpfender Markt, und wenn sich diese Technologie überhaupt noch verkaufen lässt, dann in Asien oder Südamerika. Aber nicht in Deutschland, wo noch immer 16 000 Menschen in dieser Siemens-Sparte arbeiten.

Die Beschäftigten fragen: Darf man das überhaupt, wenn es dem Konzern so gut geht?

Wie aber soll man Kürzungen durchziehen, wenn schon vor Jahren ein Standortsicherungs- und Beschäftigungspakt unterschrieben wurde, der die Mitarbeiter vor betriebsbedingten Kündigungen schützen soll? Darüber ließe sich reden - wenn es dafür triftige Gründe gibt und die Parteien sich einig sind. Die Arbeitnehmer aber fragen an diesem kühlen Münchner Herbstmorgen: Darf man das überhaupt bei einem Konzerngewinn von 6,2 Milliarden Euro und einem Umsatz von 83 Milliarden Euro? Natürlich müsse man darüber reden, sagt Vorstandschef Joe Kaeser. "Wenn dieses Geschäft eine Zukunft haben soll, dann müssen wir reagieren. Wir müssen die Kapazitäten anpassen, auch wenn das schmerzhafte Einschnitte bedeutet."

Kapazitäten anpassen, das heißt: Wir müssen schrumpfen. Wie viel geschrumpft werden muss, sagt er nicht. Stattdessen spricht er von einem "sehr erfolgreichen Jahr". Über politische Rhetorik in der Ära Donald Trump, die Lage in Nordkorea, Katalonien und die Bundestagswahlen in Deutschland. Das Meer, durch das der große Tanker Siemens gerade durch muss, ist also ziemlich aufgewühlt. Aber: "Wir haben auch in 2017 gehalten, was wir versprochen haben." Wenn der Aktienkurs bei Siemens zwischen den Sommern 2013 und 2017 um über 50 Prozent gestiegen ist, dann, so Kaeser, sei dies auch "ein monetäres Barometer für den Erfolg und die Glaubwürdigkeit der Strategie eines Unternehmens". Der Erfolg, der liegt für Kaeser vor allem im Digitalen. "Siemens gehört schon heute zu den zehn größten Software-Unternehmen der Welt", sagt er. Digital, das ist die Zukunft. Man muss dazu sagen, dass in diesem Konzern vieles schon mal Zukunft war und heute Vergangenheit ist. Handys, Kommunikationsnetze, Speicherchips, Glühlampen. Und irgendwann vielleicht auch große Gasturbinen.

Dass sich dieser Riesenkonzern ständig neu erfindet, Bereiche auslagert, verkauft, an die Börse bringt, ist eines dieser Siemens-Naturgesetze. Die Strategen sagen: Die Welt da draußen verändert sich ja auch, und sie verändert uns mit. So wie jetzt gerade mal wieder.

Erst am Montag hatte der Windturbinenhersteller Siemens Gamesa, eine deutsch-spanische Gemeinschaftsfirma der Münchner, angekündigt, bis zu 6000 Jobs zu kappen. Im September wurde bekannt, dass Siemens seine Zugsparte mit dem französischen Alstom-Konzern fusionieren will. Und die Medizintechniksparte soll im nächsten Jahr an die Börse gebracht werden - ob in Frankfurt oder in New York, darüber schweigt man noch. All das zeigt: Kaeser macht Tempo. Die Frage ist nur, ob der Rest der Truppe mitkommt.

"Wer so kurzsichtig handelt, dem werfen wir Doppelmoral und Eliten-Versagen vor."

Am 16. November will der Vorstand die Arbeitnehmervertreter über seine Pläne in der Kraftwerkssparte informieren. Es könnten an die 4000 Jobs wegfallen und ganze Werke geschlossen werden. Es könnten aber auch Jobs von großen Standorten wie Mülheim oder Berlin an Standorte wie Erfurt und Görlitz verlagert werden, um Werksschließungen im Osten zu vermeiden. Es sind diese Gedankenspiele, die die Menschen nun verunsichern. "Anstatt Geld in den Personalabbau zu stecken, sollte Siemens besser in die guten Fachkräfte und die Standorte investieren", sagt der IG-Metall- Bezirksleiter Berlin-Brandenburg-Sachsen, Olivier Höbel. "Wer so kurzsichtig handelt, dem werfen wir Doppelmoral und Eliten-Versagen vor." Bei der IG Metall hat man einen Verdacht: Sollen hier etwa Standorte gegeneinander ausgespielt werden? "Das läuft so nicht", sagt ein IG Metaller, der vor der Siemens-Zentrale steht. Siemens-Personalchefin Janina Kugel will das nicht so stehen lassen. "Wir wollen die Werke nicht gegeneinander ausspielen", sagt sie. "Wir sind ja nicht auf dem Jahrmarkt."

Während über Zahlen gesprochen wird, steht schon am frühen Morgen der Siemensianer Walter Falk draußen vor der Zentrale. Er ist aus dem Vorort Allach in die Innenstadt gekommen. 57 Jahre alt, rote Jacke. Warum er heute hier ist? "Kaeser hat gesagt, er will Ruhe ins Unternehmen bringen", sagt er. "Davon ist er weit entfernt." Zwei Stunden später sitzt Kaeser in einer Schalt-Konferenz mit Finanzanalysten. Auch sie wollen wissen, wie es mit Siemens weitergeht. Allerdings geht es bei ihnen mehr um die Geschäftszahlen als um die Frage, was jetzt mit den Schweißern in Berlin und Görlitz passiert.

© SZ vom 10.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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