Es gibt in der Welt der Wirtschaft bisweilen Entwicklungen, die niemand versteht - außer den Eingeweihten. Doch dann kommt jemand und übersetzt mit einem Wort, was die Öffentlichkeit nicht begriffen hat.
Der damalige Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, sprach von "Peanuts", als 1994 der Baulöwe Jürgen Schneider pleite ging und Dutzende Handwerker ihr Geld nicht mehr bekamen.
Kopper entlarvte auf diese Weise, wie unwichtig der Bank ihre mittelständischen Kunden sind. Franz Müntefering, seinerzeit SPD-Vorsitzender, prägte im Frühjahr 2005 den Begriff der "Heuschrecke" und verhalf damit aggressiven Fonds, die deutsche Firmen kaufen und teils fleddern, zu plötzlicher Berühmtheit; als Hedgefonds oder Private-Equity-Gesellschaften, wie sie im Branchenjargon heißen, hätten diese Fonds es keinesfalls auf die erste Zeitungsseite oder in die Tagesschau gebracht.
Und nun kommt Siemens-Chef Peter Löscher daher und redet von einer "Lehmschicht", die es abzutragen gelte. Die Lehmschicht: Das sind jene Menschen bei Siemens (und auch in anderen Unternehmen), die man gemeinhin nicht sieht, die normalen Angestellten in der Verwaltung, die Referenten und Sachbearbeiter, die untere und vielleicht auch noch die mittlere Führungsebene.
Die Mittelschicht
Sie sitzen in klimatisierten Büros, nicht in stickigen Fabriken; sie wickeln den Papierkram ab, der inzwischen zum Computerkram geworden ist; sie buchen Reisen und Rechnungen; sie sitzen im Herzen von Siemens, recht nahe an der Macht, aber oftmals weit weg von der Produktion, von den Fabriken, von den Märkten.
Die Lehmschicht: Es gibt sie in vielen deutschen Unternehmen. Bei der Allianz. Bei der Deutschen Bank. Bei Volkswagen. Bei der Telekom. Bei der Post. Bei der Bahn. Man könnte sie auch als Mittelschicht bezeichnen. Denn ihre Mitglieder sind - neben den Facharbeitern und den Handwerkern - ein bedeutender Teil jener Schicht, die das Herz der deutschen Gesellschaft bildet. Wenn Löscher diese Schicht abtragen will, hat dies Bedeutung weit über Siemens hinaus.
Der Fall des größten deutschen Industriekonzerns zeigt, dass die Globalisierung in den Fabrikhallen nicht halt macht, dass also nicht nur am Fließband die Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, sondern auch an den Schreibtischen. Die Amerikaner haben für diese Beschäftigten den Begriff des "white-collar-worker" geprägt, des Angestellten mit dem weißen Hemdkragen, dem gegenüber steht der "blue-collar-worker", der Arbeiter im Blaumann, der seit dreißig oder vierzig Jahren damit leben muss, dass sein Job ständig in Gefahr ist.
Bei Siemens schweben nun vor allem die Beschäftigten in Weiß in dieser Gefahr. Fast 17.000 Jobs will Löscher in den nächsten Jahren streichen, allein 12.100 davon in der Verwaltung. Und nur ein kleiner Teil davon lässt sich damit erklären, dass Löscher nach der Schmiergeldaffäre kräftig aufräumen muss. So hat er bereits im vergangenen Jahr nahezu den kompletten Vorstand ausgetauscht, nahezu die gesamte zweite Führungsebene gewechselt und die Geschäftsbereiche völlig neu geordnet. Die Zentrale in München hat mehr Einfluss bekommen. Löscher hat den Regionalfürsten einen großen Teil ihrer Macht genommen.
Welt AG statt Deutschland AG
All dies ist dem neuen Siemens-Chef relativ leicht gefallen. Es war nichts verglichen mit jenem erbitterten Kampf, den er nun ausfechten muss. Die Gewerkschaften und die Betriebsräte bei Siemens haben bereits angekündigt, dass sie sich gegen den Stellenabbau stemmen wollen. Sie fühlen sich übergangen, schlecht informiert und teils auch herabgewürdigt. Lehmschicht? Das klingt nach Dreck. Nach etwas, das weg muss.
Die Arbeitnehmervertreter befürchten, dass der Konzern sich nicht darauf beschränken wird, lediglich frei werdende Stellen unbesetzt zu lassen, um so die 17.000 Jobs abzubauen; am Ende dürfte Siemens auch echte Kündigungen aussprechen. Wen es trifft, das muss sich noch zeigen. Doch bei den Siemensianern geht die Angst um, gerade bei jenen in Deutschland. Denn sie wissen, dass der Umbau des Konzerns auch künftig vor allem sie treffen wird.
Dabei hieß es einst, Siemens sei das Aushängeschild der Deutschland AG, der Vorzeigekonzern der deutschen Industrie. Doch diese Aussage hat sich bereits früher bei genauerem Hinsehen als falsch erwiesen. Denn Siemens war schon immer eine Welt AG, zu Hause in 190 Ländern dieser Erde. Verschoben haben sich allerdings die Gewichte innerhalb des Unternehmens. Vor gut zehn Jahren arbeiteten noch weit mehr als die Hälfte der Siemens-Beschäftigten in Deutschland; heute sind es nicht mal mehr ein Drittel. 90 000 Stellen sind seither verschwunden.
Die Welt AG Siemens schafft auch heute neue Jobs - nur nicht mehr in Deutschland, sondern vor allem in Asien. Die Lehmschicht wird also nicht einfach abgetragen, sondern es entstehen, wie bei vielen Unternehmen auch, zugleich am entgegensetzten Ende der Welt andere Arbeitsplätze. Zurück bleiben die Entlassenen und Enttäuschten aus der Mittelschicht, die Arbeiter mit den weißen Kragen. Und von denen wird es, wenn der Aufschwung erst mal vorbei ist, noch weitaus mehr geben.