Serie: Anders leben:Ganz zwanglos

Lesezeit: 3 min

Susanne Kohts hat vieles hinter sich gelassen: ihre Karriere und den Kapitalismus genauso wie die klassische Zweierbeziehung. Sie lebt seit 16 Jahren in einer Kommune und findet es immer noch gut.

Von Angelika Slavik

Es ist jetzt Zeit für den Sesselkreis, und für die Plädoyers. Wir würden uns wirklich sehr freuen, sagt einer. Das würde im Rest der Welt nicht wirklich als Argument durchgehen, aber hier ist ja nicht der Rest der Welt.

Es gäbe natürlich auch Grund zur Freude, denn im Sesselkreis wird gerade über die Vergabe der neuen Wohnungen entschieden. Makellose Dielenböden, große Fenster, viel Licht. Im Rest der Welt müssen Bewerber für solche Objekte Einkommensnachweise vorlegen und versichern, dass sie nicht rauchen, keine lauten Kinder haben und Haustiere schon gar nicht. Schlagzeug? Pah! Aber hier gelten andere Prämissen. In diesem kleinen Teil der Welt ist Freude ein ziemlich gutes Argument.

Bad Belzig liegt gut eine Autostunde von Berlin entfernt, hier liegt das Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung, kurz Zegg. Es ist eine Kommune. Wie weit können sich Menschen vom Kapitalismus entfernen? Der Erfreute und seine Gruppe bekommen den Zuschlag, natürlich. In Wirklichkeit hatten sich alle schon vorher darauf verständigt, damit es keinen Streit gibt. Streit finden sie hier nicht so gut.

Susanne Kohts lächelt, als sie das hört. Sie war heute nicht bei der Versammlung, aber natürlich kennt sie das Prozedere, wie im Sesselkreis Entscheidungen getroffen werden.. "Ja", sagt sie, "das kann natürlich ein bisschen verrückt wirken, wenn man es das erste Mal sieht." Susanne Kohts, 49, lebt seit 16 Jahren hier. Man kann sagen, dass sich seither eine Menge getan hat. Im Kommunenleben, aber auch bei ihr selbst.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Kohts sitzt auf einer Holzbank im Freien. Ungeschminkt, offene Haare, auffallend klare Augen. Sie hat eine Decke über die Schultern gelegt, oder einen sehr deckenhaft aussehenden Schal. Es wird Tee ausgeschenkt. Kohts ist studierte Agraringenieurin. Sie hatte mal ein sehr viel bürgerlicheres Leben. So eins mit einem Job und einem Mann und zwei Kindern. "Ich bin immer eine Suchende gewesen", sagt sie. Und dass sie sich seit jeher gefragt habe, "ob da nicht noch mehr ist."

Im Versammlungssaal ist der Punkt Allgemeines dran, was bedeutet, dass jeder sagen kann, was ihn gerade bewegt. Eine junge Frau hat sich gemeldet, sie steht jetzt in der Mitte des Sesselkreises und erzählt, dass sie sich neulich für "die Fahrkarte" eingetragen hatte. Die Fahrkarte ist eine Vergünstigungskarte für die Fahrt nach Berlin mit dem Zug. Es gibt zwei davon für die derzeit 103 Bewohner im Zegg. Wer nach Berlin fahren will, trägt sich ein und steckt sie nach der Benutzung wieder zurück. Neulich aber war die Karte nicht da. "Obwohl ich mich eingetragen hatte", sagt die Frau. Irgendwer hat die Fahrkarte genommen, obwohl er sich nicht eingetragen hatte. Das verstoße nicht nur gegen die Regeln, sagt die junge Frau. Sie kämpft mit den Tränen. "Ich möchte einfach nicht, dass wir hier so miteinander umgehen." Manchmal ist es schwer zu sagen, wo die Grenze liegt zwischen kapitalistischer Rücksichtslosigkeit und banaler menschlicher Schwäche.

Susanne Kohts hat viel nachgedacht und viel gezweifelt, bevor sie ihr Leben und das ihrer Familie änderte. (Foto: Andy Caballero)

Als Susanne Kohts vor 16 Jahren nach Bad Belzig kam mit ihrem Mann und den damals kleinen Kindern, da hatte sie schon viel nachgedacht und viel gezweifelt. Nicht nur am Kapitalismus, aber auch. Und im Lauf der Jahre hat sie schließlich nicht nur den Kapitalismus hinter sich gelassen. Sie hat alle Strukturen hinterfragt, die das Leben der meisten anderen Menschen prägen. Die Vorstellung davon, welche Werte so ein Leben ausmachen sollen, im wirtschaftlichen und im moralischen Sinn. Und die Vorstellung davon, was Gesellschaft eigentlich sein soll und was Familie. Und was Liebe eigentlich bedeutet.

Als sie ins Zegg gekommen sind, ihr Mann, die Kinder und sie, da sei die Beziehung schon "in einer Krise" gewesen, sagt Kohts. Sie hätten deshalb nach "neuen Wegen" gesucht und sie auch gefunden.

Neue Wege also. Beim Zegg zahlen die Bewohner Miete und eine Essensabgabe. Es wird gemeinschaftlich gekocht. Obst und Gemüse werden selbst angebaut. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag. Die Höhe der Miete steht in keinem direkten Zusammenhang mit den Wohnverhältnissen. Die Menschen in den neu gebauten Wohnungen zahlen also nicht automatisch mehr als andere. Sie zahlen vielleicht sogar weniger - denn die Höhe seiner Abgaben bestimmt jeder selbst. Nach Einschätzung seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. 2012 hat das Zegg 30 000 Euro Gewinn gemacht. Ein Jahr später 16 000 Euro Miese. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten schwanken.

Mit diesem Beitrag endet die sechsteilige SZ-Serie "Anders leben". (Foto: N/A)

Susanne Kohts, Agraringenieurin, hat vor dem Umzug in die Kommune bei einer Biolandbau-Genossenschaft gearbeitet. Im Zegg wurde sie zunächst Lebensmitteleinkäuferin. Heute leitet sie die "Liebesakademie". Das hat mit anderen neuen Wegen zu tun, die sie gefunden hat. Im Zegg gebe es verschiedene Beziehungsformen. "Monogame und offene Partnerschaften, sexuelle Freundschaften, und auch Beziehungsgeflechte mit drei oder mehr Menschen." Kohts selbst wohnt nun in einem Mehrfamilienhaus mit ihren Kindern, deren Vater, der mittlerweile ihr Ex-Mann ist. Und mit ihrem neuen Partner. Das funktioniere gut, sagt sie, aber das heiße natürlich nicht, dass es niemals Streit gebe. Aber dort, wo ihr Weg sie hingeführt habe, weg von etablierten Modellen auf jeder Ebene, fühle sie sich angekommen. "So wie wir hier leben, das fühlt sich frei an. Das gibt mir die Möglichkeit zu wachsen. Und es ist ehrlich, das finde ich wichtig."

© SZ vom 19.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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