Samstagsessay:Wach auf, Nippon

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Das Desinteresse der USA zwingt Japan dazu, sich auf sein Umfeld zu konzentrieren - auf Ostasien. Der Schritt ist überfällig.

Von Christoph Neidhart

Ostasien ordnet sich neu. Mit dem Aufstieg Chinas und der Entspannung auf der koreanischen Halbinsel verlagern sich die Gewichte. Das hat zunächst nichts mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump zu tun, er beschleunigt den Prozess nur. Und zwingt die Regierung in Tokio damit, sich neu zu positionieren. So findet Japan sich in einer Führungsrolle wieder, die es seit dem Zweiten Weltkrieg gemieden hat. Premier Shinzo Abe hat es nun in der Hand, Ostasiens wirtschaftliche Zukunft mitzugestalten. Als Alternative drohen Japan Isolation, Schuldenkrise und Bedeutungsverlust.

Zum Jahreswechsel tritt die "Transpazifische Partnerschaft" (TPP) in Kraft, die Trump 2016 in seiner ersten Amtshandlung platzen ließ. Unter Tokios Leitung gehen die elf Staaten nun ohne die USA zum Freihandel über. Die neue TPP, offiziell CP-TPP (Comprehensive and Progressive Transpacific Partnership) oder manchmal auch "TPP-11" genannt, steht nun tatsächlich für Freihandel, es geht nicht um Strategie, wie sie der frühere US-Präsident Barack Obama im Sinn hatte. Er wollte die TPP zum Kern seines "Schwenks nach Asien" machen, sein Verteidigungsminister Robert Gates nannte sie "wertvoller als ein weiterer Flugzeugträger". Das ist die TPP-11 mit Kanada, Mexiko, Peru, Chile, Australien, Neuseeland, Vietnam, Malaysia, Brunei, Singapur und Japan nicht.

Japan ist für TPP-11 über seinen Schatten gesprungen. Lange lehnte es jegliche Handelsabkommen zwischen Industriestaaten ab. Die Welthandelsorganisation (WTO) sollte die Zölle abbauen. An einer Vereinheitlichung von Normen hatte Tokio wenig Interesse. Es vertraute darauf, dass die WTO mit ihren 164 Mitgliedern über weniger effektive Hebel gegen nichttarifäre Handelsschranken verfüge als ein zwischenstaatliches Schiedsgericht. Japan neigt zu Protektionismus, zumindest bisher. Es kauft keine europäische Eisenbahntechnik, sie genüge seinen Anforderungen an Präzision nicht. Medikamente dürfen nur importiert werden, sofern sie eigens für den japanischen Markt getestet wurden. Der Körper der Japaner sei anders. Und erst der Reis! Nach WTO-Regeln muss Japan jährlich 700 000 Tonnen einführen. Diesen Reis mutet die Regierung den Japanern jedoch nicht zu, er gelangt nicht in den Einzelhandel, sondern wird zu Viehfutter oder Crackern verarbeitet, in Billig-Restaurants verkocht oder eingelagert. Japan sitzt deshalb auf drei Millionen Tonnen Import-Reis, den es gern als Nahrungsmittelhilfe verschenkt.

Dass Japans Premier nun handelt, ist vor allem der Angst vor Isolation geschuldet

Das soll sich nun alles ändern? Die TPP-11 ist nicht der einzige Handelspakt, den Tokio in diesem Jahr unterzeichnet hat. Jefta, das Wirtschaftsabkommen mit der EU, soll in Kraft treten, sobald das EU-Parlament zugestimmt hat. Zugleich laufen Verhandlungen zu einem umfassenden Freihandelsabkommen der "Asean+6"-Länder namens RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership). Sollten die zehn Asean-Staaten Singapur, Brunei, Malaysia, Thailand, die Philippinen, Vietnam, Laos, Kambodscha und Myanmar dieses Projekt mit China, Südkorea, Japan, Indien, Australien und Neuseeland tatsächlich verwirklichen, entsteht die größte Wirtschaftszone der Welt.

Vor allem aber bemüht sich Tokio um ein besseres Verhältnis zu China. Im Oktober besuchte Abe Peking, wo er mit Präsident Xi Jinping eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit und Japans Beteiligung an Infrastrukturprojekten von Chinas "neuer Seidenstraße" vereinbarte. Als eine Folge davon könnte sich Tokios Bindung an die USA lockern.

Nach Abes Rückkehr aus Peking spielte das japanische Außenministerium den Besuch freilich herunter, Japan habe keine Wende vollzogen, wie manche Medien behaupteten. Die Regierung versuchte damit, Trump zu beschwichtigen, aber auch die eigene Bevölkerung. Die Japaner haben ein halbes Jahrhundert mit dem Selbstverständnis gelebt, sie seien wirtschaftlich und militärisch Washingtons Juniorpartner. Jetzt erschrecken sie ob der Vorstellung, das könnte sich ändern.

Vor neun Jahren träumte Japans damaliger Premier Yukio Hatoyama öffentlich von einer "ostasiatischen Gemeinschaft". Damit griff er eine Utopie seines Großvaters Ichiro Hatoyama auf, des japanischen Regierungschefs von 1954 bis 1956. Dieser hatte nach Kriegsende ein Buch des Philosophen Richard Coudenhove-Kalergi auf Ostasien adaptiert, das, 1923 veröffentlicht, als visionäre Vorwegnahme der EU zu lesen ist. "Alle großen historischen Ideen haben als utopische Träume begonnen", erklärte Hatoyama damals. Abes Liberaldemokraten hatten - und haben bis heute - nur Hohn und Spott für ihn übrig. Washington aber reagierte damals alarmiert. Es befürchtete, Hatoyama könnte sich von den USA abwenden. Nur deshalb setzte Obama auf die TPP, bis dahin ein unbedeutender Freihandelspakt von Singapur, Brunei, Neuseeland und Chile. Seine Überlegung: Wenn die USA der TPP beiträten und Japan mitnähmen, binde er Tokio ein. Die Ironie der Geschichte will es, dass Japan nun wegen Trumps Absage an die TPP den Blick verstärkt auf Asien richtet.

Hatoyamas Zeit als Politiker ist vorbei, er twittert nur noch und hält Vorträge. Die Japaner wollten ihn nie verstehen. Und nur wenige erkennen nun, dass Abe Schritte macht, die zur Realisierung von Hatoyamas Traum führen könnten.

Abe hat sich stets als China-Hardliner gefallen und für Japan eine Führungsrolle im Widerstand gegen das aufstrebende China reklamiert. Er dürfte heute noch so denken. Er handelt auch nicht aus der Erkenntnis heraus, dass China und Japan sich gegenseitig brauchen. Ihre Industrien sind enger verflochten als jene der EU-Länder, vor allem über Zulieferketten. Japans Industrie hat Abe schon lange gedrängt, die Beziehungen zu Peking zu verbessern. Wenn er aber jetzt handelt, dann aus Angst, Japan könnte sich isolieren. Obwohl Abe sich mehr als jeder andere internationale Politiker um Trump bemüht, führt ihn dieser immer wieder vor. Er bürdete Japan Stahlzölle auf, während er Europa und Südkorea (noch) verschonte. Und er droht mit Strafzöllen auf japanische Autos. Inzwischen zweifeln viele Japaner sogar an der Bereitschaft der USA, Nippon im Falle eines Konfliktes zu verteidigen.

Eine wirtschaftliche Integration Japans in Ostasien braucht ein politisches Gerüst, vergleichbar der Stahl- und Kohleunion im Europa der 1950er-Jahre, aus der schließlich die EU hervorging. Diese Integration könnte Japan helfen, seine wirtschaftliche Stagnation zu überwinden. Tokio braucht Wachstum, sonst bekommt es seine Staatsschulden von 240 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung nicht in den Griff. Und es ist fraglich, ob künftige Generationen bereit sein werden, mit ihren Ersparnissen einen Staatsbankrott zu verhindern, zumal dann, wenn die Regierung weiterhin vor allem die Unternehmen begünstigt, und nicht die kleinen Leute. Japans Notenbank wälze die Staatsschulden jetzt schon auf die Sparer ab, sagt der Politikwissenschaftler Mark Blyth, Professor an der Brown University. "Nur tut sie das so langsam, dass es niemand merkt."

Manche Beobachter warnen davor, dem Besuch Abes in Peking zu viel Bedeutung zuzumessen, es seien "bloß Handschläge" gewesen. Der britische Economist stieß ins gleiche Horn: "Nur Bankette und Pandas", kommentierte die Zeitung. Abes Absicht sei es weiterhin, sich China in den Weg zu stellen. Er verberge das nur, um die Inthronisierung des nächsten Kaisers, den G-20-Gipfel in Osaka und Olympia 2020 reibungslos über die Bühne zu bringen.

China zu bremsen und zugleich mit ihm zu kooperieren - das geht auf Dauer nicht

Diese Sicht ist zu einseitig. Sicher: Abe ist ein strammer Nationalist, der von Japans Vorkriegsgröße träumt, wie er in seinem Buch "Schönes Japan" schrieb. Die Wirtschaft hat ihn nie interessiert. Doch er ist auch Pragmatiker. Als solcher dürfte er verstanden haben, dass Japans Zukunft in Asien liegt. Chinas Märkte locken, Japans Industrie braucht chinesische Arbeiter - nicht nur am Fließband, auch hochqualifizierte Ingenieure. Andererseits fürchten viele Japaner China wegen seiner Größe, seit Xis unverhohlenem Bestreben zu mehr Autokratie erst recht.

Illustration: Sead Mujic (Foto: Illustration: Sead Mujic)

Wie tief die Risse im transpazifischen Wirtschaftsgefüge schon sind, die Trump ihm mit seinem Handelskrieg und Xi mit seinem Dagegenhalten zugefügt haben, zeigte sich beim Apec-Gipfel in Papua Neuguinea vorige Woche. Erstmals hat man sich nicht auf ein gemeinsames Communiqué einigen können.

Historisch betrachtet war China lange Zeit der Hegemon in Ostasien, Japan nur ein kleiner Bruder, der von China lernte. Im 19. Jahrhundert drehte sich dieses Kräfteverhältnis, das japanische Kaiserreich griff nach der Kontrolle über ganz Ostasien. Schließlich versank China im Maoismus. Als es sich wieder zu öffnen begann, half der reiche Nachbar Japan dem heruntergewirtschafteten Land, sich wieder aufzurichten. Eine Zeit, in der beide Länder stark waren, hat es noch nie gegeben. Für einen stabilen Frieden jedoch müssen die Nachbarn sich als gleichberechtigte Partner akzeptieren: so wie Deutschland und Frankreich in Europa.

Abes Pragmatismus hat sich oft auf bloße Lippenbekenntnisse reduziert, etwa, als er "Womenomics" proklamierte. Er wolle die Frauen fördern, behauptete er. Heute gibt es in seinem Kabinett nur eine einzige Ministerin und im Parlament zählt seine Partei so wenige weibliche Abgeordnete wie lange nicht mehr. Auch seine als "Abenomics" titulierten Wirtschaftsreformen beschränken sich jenseits der extrem lockeren Geldpolitik auf lautstarke Ankündigungen, die allenfalls zu symbolischen Strukturmaßnahmen führten.

TPP-11, RCEP und die Bereitschaft, enger mit China zusammenzuarbeiten, sind große Schritte. Abe propagiert sie nur weniger laut als Abenomics, er will den Status quo nicht antasten, sondern das Unmögliche kombinieren: China zu bremsen und gleichzeitig mit ihm zu kooperieren. Das geht auf die Dauer nicht. Er wird auch keine Brücke zwischen Peking und Washington bauen können, wie er vermutlich möchte. Japan wird sich entscheiden müssen zwischen dem Auslaufmodell der Pax Americana und einer stärkeren wirtschaftlich Integration in Ostasien. TPP-11, RCEP und die Annäherung an China bieten sich als erste Bausteine für eine solche Wirtschaftsgemeinschaft an.

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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