Samstagsessay:Eine Welt ohne Staus ist möglich

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Die Verkehrsprobleme werden immer schlimmer, die Politik ist ratlos. Die Lösung wäre ein Markt für die Straßennutzung.

Von Peter Cramton, Richard Geddes und Axel Ockenfels

Staus gehören zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Verstopfte Straßen erzeugen nicht nur Frust, sie belasten auch die Umwelt und führen zu hohen wirtschaftlichen Kosten. Einer neuen Studie zufolge verbrachte ein deutscher Autofahrer im Jahr 2017 durchschnittlich 30 Stunden im Stau. In einigen Städten waren es deutlich mehr. In München waren es im Schnitt 51 Stunden, vier Stunden mehr als im Jahr 2016. Die Fahrgeschwindigkeiten während der Hauptverkehrszeiten liegen zuweilen bei bloß acht Kilometern in der Stunde, da kommt ein stramm laufender Fußgänger mit. Und jedes Jahr wird es schlimmer. Der jüngste ADAC-Staubericht sieht für Deutschland mit täglich 4000 Kilometern Stau einen Zuwachs von fünf Prozent im Jahr 2017 im Vergleich zum Vorjahr. Und bei der Zeit, die in Staus verbracht wurde, sogar einen Zuwachs von neun Prozent. Die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Schäden liegen diversen Schätzungen zufolge allein in Deutschland um die 80 Milliarden Euro pro Jahr.

Doch auch wenn viele über Staus sprechen - effektive Lösungsvorschläge sind rar. Oft wird ein Ausbau des Straßennetzes gefordert. Doch es fehlt meistens an Geld, oder an Platz für neue Straßen in den Verkehrsbrennpunkten. Aber selbst wenn gebaut wird, hilft das oft auch nicht weiter. Neu gebaute Straßen sind nach kurzer Zeit genauso verstopft wie vorher die alten Straßen. In der Wirtschaftswissenschaft wurde dieser Jojo-Effekt als "Fundamentales Gesetz der Straßenverstopfung" bekannt. Sobald Platz auf der Straße ist, zieht das neuen Verkehr an. Pendler, die vorher den öffentlichen Nahverkehr benutzt haben, wechseln auf die Straße. Andere fahren vermehrt zu Stoßzeiten. Autointensive private wie kommerzielle Aktivitäten steigen an. Schließlich ist alles beim alten.

Anbieter für Mitfahrgelegenheiten wie Uber und Lyft helfen im Kampf gegen Staus auch nicht weiter. Sie scheinen im Gegenteil den Verkehr zusätzlich zu belasten. Autonomes Fahren kann zwar helfen, die Straßen effizienter zu nutzen und Unfälle zu vermeiden. Aber es macht den Verkehr auch billiger und attraktiver und erhöht so die Nachfrage nach Mobilität. Es ist deswegen unwahrscheinlich, dass autonomes Fahren allein das Stauproblem lösen wird.

Autofahrer haben keinen Anreiz, die Kosten ihres Tuns für andere zu berücksichtigen

Verkehr ist ein allgegenwärtiges Problem, weil Autofahrer keinen Anreiz besitzen, die Kosten zu berücksichtigen, die sie allen anderen durch ihren Beitrag zum Stau auferlegen. Man steht nicht nur im Stau, man ist auch Teil des Staus. Jeder Fahrer ist also mitverantwortlich dafür, dass alle anderen (auch) ihre Nerven und Zeit verlieren. Würden die Fahrer nicht nur den eigenen Frust berücksichtigen, sondern auch ihren Beitrag zu den Staukosten aller anderen, gäbe es kein Stauproblem mehr.

Die Kosten, die von zusätzlichem Verkehr ausgehen, steigen steil an, wenn eine Straße an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit kommt. Schon relativ wenige zusätzliche Autos können dann zu einer Verstopfung der Straße führen. Umgekehrt gilt aber auch: In Zeiten großer Belastung kann manchmal schon eine vergleichsweise kleine Reduktion der Anzahl der Autos einen Stau vermeiden helfen. Paradoxerweise kann sich der Durchfluss von Autos so in Spitzenzeiten nahezu verdoppeln - ohne, dass dafür neue Straßen gebaut werden müssten.

Wenn der Straßennutzung ein Preis gegeben wird, der diese Kosten für alle richtig abbildet, dann kann die knappe Verkehrsinfrastruktur bestmöglich genutzt, und Staus können vollständig eliminiert werden. Wirtschaftswissenschaftler begeistern sich schon seit fast 100 Jahren für diese Idee. Doch bisher ist sie aus dem Elfenbeinturm kaum herausgedrungen. Dies hat zwei Gründe. Der eine Grund ist technologischer Natur, und der andere Grund ist politischer Natur. Beide Gründe sind aber heute nicht mehr überzeugend.

Jüngere Fortschritte in der Computer- und Kommunikationstechnologie erlauben, den Standort eines Autos jederzeit zuverlässig auf den Kubikmeter genau zu bestimmen und zu kommunizieren. Dies ermöglicht erstmals in der Geschichte des Straßenverkehrs eine präzise Messung der Straßennutzung, ohne die eine effiziente Bepreisung nicht möglich ist. Zugleich gab es in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte bei dem Design von Märkten zur Bewirtschaftung komplexer Netzwerke. Strom bekommt zum Beispiel in vielen liberalisierten Strommärkten einen Preis, der je nach Knappheit an jedem Ort und zu jeder Zeit dynamisch angepasst wird. So wird die Netzinfrastruktur trotz der für Stromflüsse charakteristischen Unsicherheiten und Störeffekte zum Nutzen der Stromkunden bestmöglich ausgenutzt. Gleichzeitig erlauben kluge Marktregeln, dass Preisrisiken durch unvorhersehbar auftretende Engpässe begrenzt bleiben.

Neuere Arbeiten zeigen, dass ganz analog die Straßennutzung effektiv gesteuert werden kann. Der Preis für die Nutzung entsteht durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage und reflektiert so die Knappheit der Straßenkapazität an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Preise können den Fahrern durch smarte Bedienungshilfen im Auto oder Handy in Echtzeit kommuniziert werden, und Fahrentscheidungen können unter Berücksichtigung individueller Präferenzen und mithilfe smarter Assistenzsysteme getroffen werden.

Dafür ist es jedoch notwendig, Politik und Bevölkerung von der Idee zu überzeugen. Das ist nicht leicht. Viele meinen, dass ein Preis für die Straßennutzung unfair sei, auf Kosten der sozial Schwachen ginge, und man schon deswegen die Finger davonlassen sollte. Diese Einwände sind ernst zu nehmen - aber sie lassen sich entkräften. Ein Preis für die Straßennutzung kann für alle gewinnbringend umgesetzt werden.

Auch heute fallen ja Kosten an, wenn die Straße belastet ist. Diese Kosten werden nicht in Euro bezahlt, sondern durch Frust und Zeitverschwendung in Staus. Dazu kommt, dass Staus die Anzahl der durchfließenden Autos pro Stunde reduzieren, der Umwelt schaden, und keinen Unterschied zwischen Fahrern machen, die dringend auf sofortigen Transport angewiesen sind, und Fahrern, die dem Stau leicht hätten ausweichen können. Ein effizienter Preis verursacht zwar auch Kosten für die Autofahrer, aber er macht die Knappheit der Straßenkapazität auf eine Weise sichtbar, die die Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten verhindern, die mit verstopften Straßen verbunden sind. Davon profitieren alle.

Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass nicht die Einführung eines Preises für die Straßennutzung, sondern der Status quo unfair ist. Denn dieser führt dazu, dass Verkehrsteilnehmer, die am meisten zu Staus beitragen und dadurch auch der Umwelt am meisten schaden, denselben Preis für die Nutzung der Straße zahlen wie alle anderen, die der Gesellschaft solche Kosten ersparen. Die Verweigerung einer Bepreisung bedeutet nichts anderes, als die Straßennutzung in Zeiten höchster Beanspruchung und höchster sozialer Kosten zu subventionieren. Ein Preis würde diese Ungerechtigkeit korrigieren.

Man stelle sich zur Illustration vor, die Politik würde aus behaupteten Fairnessgründen Preise in Strommärkten abschaffen. Das Ergebnis wäre ein massiv höherer Stromverbrauch, Versorgungsengpässe bis hin zu Blackouts durch verstopfte Netzwerke und zusätzliche Klima- und Umweltschäden. Diejenigen Haushalte, die durch Zeit, Ort und Menge ihres Stromkonsums die größten Kosten verursacht haben, würden am meisten von dem Wegfall der Preise profitieren, weil sie vorher die höchsten Stromrechnungen hatten. Gleichzeitig würden alle Stromnutzer unter den verstopften Netzen und zusätzlichen Umweltschäden leiden. Und natürlich fehlten ohne Preise die Knappheitssignale, die für die richtigen Investitionsentscheidungen wichtig sind, ganz zu schweigen von dem fehlenden Geld für die notwendigen Investitionen zum Erhalt und Ausbau des Angebots. Das Ergebnis wäre weder gerecht noch effizient.

Bei einer Verkehrspolitik, die auf eine kostengerechte Festlegung von Preisen verzichtet, sind die Auswirkungen ähnlich, wie Studien zeigen. Bereits eine rudimentäre Bepreisung kann Verstopfungen und Unsicherheiten im Straßenverkehr reduzieren, weil viele Verkehrsteilnehmer vergleichsweise flexibel reagieren können. Verkehrsteilnehmer mit geringem Einkommen werden durch die Preise typischerweise weniger finanziell belastet als reichere Verkehrsteilnehmer. Dazu kommt, dass durch einen Preis auch Erlöse erzielt werden. Diese Erlöse können verausgabt werden, um die Straßeninfrastruktur zu modernisieren, soziale Härten bei Einführung einer Straßenbenutzungsgebühr abzufedern, den öffentlichen Nahverkehr aus- und im Gegenzug verzerrende Steuern und Abgaben abzubauen, deren Erlöse bisher für die Verkehrsinfrastruktur herhalten mussten. Berücksichtigt man solche Maßnahmen, profitieren Haushalte mit geringem Einkommen am meisten von einer kostengerechten Verkehrssteuerung durch einen modernen Marktmechanismus.

Die Zustimmung zu Straßennutzungspreisen steigt, wenn man den Erfolg sieht

Solche Effekte tragen dazu bei, dass die Zustimmung zu Straßennutzungspreisen oft ansteigt, sobald die Betroffenen ihre eigenen Erfahrungen sammeln konnten. In Stockholm gab es 2006 einen Test für eine Straßennutzungsgebühr. Anfangs sprachen sich zwei Drittel der Befragten dagegen aus. Doch nach dem Test, im Jahr 2007, befürworteten sie fast 70 Prozent, die Bepreisung wurde als großer Erfolg gefeiert. 2011 plädierten in Mailand 80 Prozent der Befragten für eine Ausdehnung der Straßennutzungsgebühr, die vornehmlich aus umweltpolitischen Erwägungen eingeführt wurde, nachdem sie Erfahrungen damit sammeln konnten. 70 Prozent der Nutzer mit den geringsten Einkommen sprachen sich für die Bepreisung einer Autobahnspur in San Diego aus. Es scheint, dass viele Betroffene die Vorteile kostengerechter Preise zunächst unter-, die Probleme dagegen überschätzen.

Die Zeit ist reif, den Verkehr neu zu denken. Weltweit wird über die Einführung moderner Preissysteme zur Straßennutzung nachgedacht. Deutschland könnte als Vorreiter profitieren. Deutschlands Ruf als Autoland leidet darunter, dass es zu den stauträchtigsten Ländern gehört und technologisch zurückzufallen droht. Dazu kommen große Herausforderungen in der Klima- und Umweltpolitik im Transportsektor, für die ein zeit- und ortsabhängiger Preis für die Straßennutzung ein effektiver und effizienter Lösungsansatz ist.

Im aktuellen Koalitionsvertrag der Regierungsparteien wird versprochen, die großen Chancen der Digitalisierung des Verkehrssystems zu nutzen, ein "digitales Straßengesetz" zu erarbeiten und digitale Testfelder im Verkehr zu unterstützen. Die Politik sollte sich dabei nicht mit zweitbesten Lösungen zufriedengeben. Eine Welt ohne Staus ist möglich. Und ist sie einmal Wirklichkeit geworden, wird wohl niemand mehr auf die Idee kommen, sie wieder abzuschaffen. Nicht die dynamische Bepreisung der Straßennutzung ist ein politisches Pulverfass, sondern ihr Unterlassen.

Peter Cramton und Axel Ockenfels sind Volkswirtschaftsprofessoren an der Universität Köln, Richard Geddes ist Professor an der Cornell Universität. Siehe Artikel "Was kommt".

© SZ vom 10.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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