Samstagsessay:Aufbruch ohne Fortschritt

Lesezeit: 5 min

Was im Silicon Valley passiert, wirkt wie die Steigerung des amerikanischen Pioniertraums. Doch hinter dieser Ideologie der Erneuerung steckt gesellschaftschädigender Elitismus.

Von Florian Grosser

Es war eine ungewöhnliche Kommunalwahl in San Francisco im vergangenen Winter. Nicht wegen des Demokraten Ed Lee, der wurde als Bürgermeister bestätigt. Sondern weil das Silicon Valley erstmals offen mitmischte bei der zeitgleichen Abstimmung über einige Gesetzesvorhaben. Genauer gesagt Airbnb, die Online-Plattform zur Buchung privater Urlaubsunterkünfte. Ausgestattet mit einem fünfmal so hohen Etat wie Politiker Lee bei der Bürgermeisterwahl, versuchte Airbnb eine Initiative der Stadt zu blockieren, gewerbliche Kurzzeitvermietungen zu beschränken.

2000 Minuten Sendezeit für Werbe-, pardon Wahlkampfspots buchte die Firma. Die Lokalpolitiker, die fürchten - man kennt das aus Berlin -, dass gut zahlende Touristen in Privatunterkünften die Wohnungsnot verschärfen und die Mietkosten weiter in die Höhe treiben, kamen auf sechzehn Minuten.

Airbnb gewann.

Kein Einzelfall. Immer öfter wollen Technologiefirmen in Kalifornien nicht nur bestehende politisch-rechtliche Spielregeln anfechten, sondern das gesamte Spielfeld umgestalten und treten auf die politische Bühne. Apple verteidigt seine undurchsichtigen Steuermodelle, indem der Konzern die Vorwürfe der Steuerflucht als "Mist" abtut. Uber begegnet Nachfragen zum Status seiner als selbständig deklarierten, daher nicht versicherten Fahrer mit inszenierter Gleichgültigkeit (in den Wagen kleben oft Bettelbriefe, wo man in regulären Taxis die Tarifübersicht findet). Immer aggressiver mischt sich die Industrie ein - und wendet sich gegen den schwachen Teil der Gesellschaft.

Der Wille zur Disruption, zur radikalen Veränderung oder gar Zerstörung bestehender Ordnungen, beschränkt sich nicht mehr auf technologische Entwicklungen - das Leitmotiv der Branche wird politisch. Gerade unter dem neuen US-Präsidenten. Peter Thiel, deutsch-amerikanischer Milliardär und Silicon-Valley-Investor, warb für Donald Trump: Es gebe keinen geeigneteren Politiker für einen kreativen Bruch - weg vom bestehenden System, hin zu libertärer Deregulierung - erklärte Thiel.

Angeblich geht es der Tech-Branche ums Teilen. Die Realität sieht anders aus

Ähnlich positioniert sich auch Paul Graham, Risikokapitalgeber (er investiert in Airbnb, Dropbox und Reddit) und Meinungsmacher im Silicon Valley. Neben einem Programm, das die Abschaffung der "Anomalie" Sozialstaat vorsieht, entfaltet Graham in Blogs auch das Selbstverständnis, das den transformativen Ansprüchen der Firmen zugrunde liegt: Sie dürfen und müssen die Gesellschaft ändern, weil die staatlichen Institutionen ineffizient seien und Technologie den Wohlstand mehre. Dabei führt Graham nicht weniger als die Menschheit ins Feld: Die Produktivität, für die das Valley mit seinen wagnisbereiten "Disruptoren", den Gründern und Investoren stehe, komme als Fortschrittsdividende allen Erdenbürgern zugute.

Nun weiß man spätestens seit Jean-Jacques Rousseau, dass Bezugnahmen auf die Menschheit mit Vorsicht zu genießen sind. Im Genfer Manuskript, der Urfassung seines "Gesellschaftsvertrags", mutmaßt Rousseau, die Behauptung, alle Menschen zu lieben, diene häufig dazu, niemanden tatsächlich lieben zu müssen - insbesondere nicht die eigenen Nachbarn.

Betrachtet man politische Einstellungen und Vorhaben im Silicon Valley, scheint auch hier hinter einer universalistischen, egalitären Fassade ein partikularistisch-elitärer Kern zu liegen: Sowohl großformatige Pläne wie die Ersetzung des Steuersystems durch ein Spendensystem als auch kleinteilige Kämpfe, etwa um die Nutzung öffentlicher Bushaltestellen durch Shuttles von Google & Co., sind offenkundig von Sonderinteressen geleitet.

Illustration: Lisa Bucher (Foto: Lisa Bucher)

Die Treiber des Technikbooms sprechen viel von den Werten des Teilens, der Gemeinschaft und der Humanität. Aber die realen Folgen des Booms beweisen das Gegenteil: Gerade auf dem Wohnungsmarkt wachsen Disparitäten. Angesichts des höchsten Mietniveaus im Land - eine Dreizimmerwohnung liegt im Schnitt bei 5000 Dollar - flüchten selbst Familien mit mittlerem Einkommen. Immer öfter veranlassen Eigentümer Zwangsräumungen, die in erster Linie Farbige und Latinos treffen. Die ethnisch-kulturelle Vielfalt ist bedroht, San Franciscos Markenzeichen.

Für Start-up-Gründer Justin Keller sind solche Verschiebungen im Gesellschaftsgefüge gerechtfertigt. Durch außergewöhnlich harte, entsprechend entlohnte Arbeit hätten man als IT-Macher nicht nur das Recht erworben, in der Stadt zu leben, schrieb er in einem offenen Brief an den Bürgermeister. Es stehe einem außerdem zu, dort keinem "Pöbel" zu begegnen, insbesondere nicht den knapp 8000 Obdachlosen. Ungefiltert zeigt sich hier ein Menschenbild, das zwischen the best and the rest trennt: Während die Tech-Society die sozio-ökonomischen (Zufalls-)Bedingungen individuellen Erfolgs außer Acht lässt, verweist sie schlicht auf die angeblich natürliche Differenz, welche die Talentierten und Motivierten von der Masse abhebe.

Der dabei gern gebrauchte Ausdruck "disproportional" bringt dies auf den Punkt: Abweichungen im Zugang zu exklusiver Wohnlage oder politischer Macht werden direkt an das vermeintlich überproportionale Leistungsvermögen der "Macher" gekoppelt. Der Begriff macht es jenen zudem einfacher, sie müssen nicht von Ungleichheit sprechen. Das würde all die irritieren, die glauben, all das Neue aus dem Silicon Valley verbessere die Welt.

Sogar gut gemeinte Versuche, sich mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen, reproduzieren die Logik der Asymmetrie. So möchte ein Start-up für mehr Empathie mit Obdachlosen sorgen. Um ihren Alltag "authentisch" im Netz zu dokumentieren, werden diesen kleine, am Körper zu befestigende Kameras überlassen. Der Ansatz, den Etablierten einen Blick auf ihre sonst fast unsichtbaren Nachbarn zu gestatten, zielt nicht auf deren Emanzipation, sondern grenzt an poverty porn. Die Darsteller bleiben handlungsunfähig, die Zuschauer können helfen - oder nicht.

Die eigenen Maßstäbe der Konzerne und ihr lokales Handeln stimmen nicht überein

Man glaubt, den viel beschriebenen, wenn auch unterschiedlich bewerteten Geist amerikanischer Pioniere und Revolutionäre zu erkennen. So begegnet Alexis de Tocquevilles Klassiker "Über die Demokratie in Amerika" dem rücksichtlosen Individualismus und Materialismus der "Spieler" äußerst skeptisch - ein nach seiner Einschätzung besonderes in Kalifornien verbreiteter Typus. Hannah Arendt hebt dagegen in "Über die Revolution" bewundernd auf das zutiefst amerikanische "Pathos des Neubeginns" ab, welches sich aus im Zuge der Besiedelung des Kontinents gemachten Erfahrungen gelebter Gleichheit und Freiheit speise, die der Alten Welt gänzlich fremd seien.

Zu dieser auf Aufbruch und Abenteuer gepolten Grundhaltung gesellt sich gegenwärtig der quasi-religiöse Glaube an Disruption, an das Aufsprengen von Denk- und Handlungsmustern mit technologischen Mitteln. Anders als der klassische Kapitalismus begnügt sich die New Economy nämlich nicht damit, Produkte an den Mann zu bringen. Sie zielt darauf ab, uns mit Inhalten zu füttern, ja mit einer Weltsicht auszustatten. Wenn der interessenpolitische Ehrgeiz großer Technologiefirmen in umgekehrtem Verhältnis zu deren Bereitschaft zu gesellschaftspolitischen Debatten steht, resultiert dies aus den Leitvorstellungen von Disproportionalität und Disruption: Die Technikelite, zu der auch Mark Zuckerberg oder Elon Musk zählen, verfügt angeblich über privilegierte Einsichten im Hinblick auf ungekannte Fortschrittmöglichkeiten, Heilsversprechen bis zur Unsterblichkeit eingeschlossen - und ist daher befugt, auch politisch die Richtung vorzugeben.

Eine unangenehme Vorstellung? Nun, es gäbe noch mehr zu diskutieren mit denen, die sich besser fühlen, die aber nicht reden wollen. Was ist mit der Steuergerechtigkeit in einer Region, in der einige der weltweit profitabelsten Unternehmen sitzen, die öffentliche Infrastruktur jedoch marode ist? Wann wird die digitale Arbeit vergütet, die wir alle leisten, indem wir soziale Medien nutzen und so kapitalisierbare Daten produzieren? Was sind die Effekte kostenloser Onlinekurse, die anbietenden Universitäten zufolge Differenzen verstärken statt Bildungsgleichheit zu fördern - werden diese mit Erfolg doch vor allem von Teilnehmern belegt, die schon über Studienabschlüsse verfügen. Was ist mit der Substanz des IT-Dogmas, der Zugang zu Information führe automatisch zum Erwerb von Wissen? Jetzt, im Informationszeitalter weiß jeder vierte Amerikaner nicht, dass die Erde sich um die Sonne dreht.

Aber es kommen keine Antworten, auch nicht auf die der Autorin und Filmemacherin Astra Taylor, die in dem Buch "The People's Platform" fragt, ob das Internet sein Versprechen hält, eine Bibliothek für alle zu sein - oder doch inzwischen als gigantisches, von wenigen kontrolliertes Marketinginstrument funktioniert. Natürlich, aus den Symptomen, in denen sich der Wille zur Gestaltung und der Unwille zum Diskurs überkreuzen, ergibt sich noch nicht das Krankheitsbild einer geschlossenen und damit undemokratischen Ideologie. Dazu sind Positionen und Projekte im Silicon Valley viel zu heterogen, die dahinterstehenden Firmen zu wandlungsfähig. Doch fest steht: Die von den IT-Mächtigen gesetzten Maßstäbe globaler Inklusion und die lokal geschaffenen Fakten klaffen gegenwärtig auseinander. Und das nicht nur in San Francisco. Darüber können vage Verweise auf Werte und Humanität nicht hinwegtäuschen.

Bei aller Faszination für die Innovationsdynamik der kalifornischen Zukunftslabors: Die Politik- und Sozialexperimente, die dort auf Basis eines sich gleichheitlich gebenden Kapitalismus angestellt werden, sollten anderswo - aus bloßer Sorge, "den Anschluss zu verpassen" - nicht leichtfertig wiederholt werden. Denn noch ist der Nachweis nicht erbracht, dass die Disruptionsversuche von Airbnb und anderen zu einem produktiven Aufbrechen verkrusteter Strukturen führen. Vielmehr könnte es sein, dass sie das soziale Netz, im ursprünglichen Wortsinne, zerreißen. Ohne dass vorher einmal darüber gestritten werden konnte.

Der Autor lehrt Philosophie an den Universitäten Berkeley und St. Gallen. Zuletzt erschien von ihm "Theorien der Revolution" (Junius).

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: