Report:Zeitspiel

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Microsoft, Netflix, Spotify, Facebook und all die anderen wollen im Grunde nur das eine: unsere Zeit. Jede Minute zählt, und um unser wertvollstes Gut zu bekom­men, kämpft jeder gegen jeden.

Von Jürgen Schmieder

Und dann macht es "Di-di-di" am leisesten Ort auf diesem Planeten, wegen der fehlenden Resonanz ist das ein geradezu groteskes Erlebnis. Es macht "Di-di-di" und nicht mehr "Dii-di-di" wie einst, und dieser Unterschied ist so ziemlich alles, was man über den Zustand der Welt im Jahr 2019 wissen muss. Das eine Geräusch ist beim ersten Ton einen Drittel Herzschlag schneller und kommt deshalb dynamischer, kräftiger, leistungsfähiger daher. Die Kürze des ersten Tons signalisiert also eine Verbesserung.

Der Raum befindet sich im Gebäude 87 auf dem Campus des Technologiekonzerns Microsoft in Fremont, einem Vorort von Seattle. Das Gebäude hat kein einziges Fenster, weil alles, woran hier gearbeitet wird, streng geheim ist, und wer vom Eingang zu diesem schalltoten Würfel mit einer Kantenlänge von mehr als sechs Metern gelangen möchte, der muss sieben Türen durchschreiten, für die es jeweils eine gesonderte Berechtigung auf der Codekarte braucht. Es geht hier ums Essenzielle, eben den Unterschied zwischen "Di-di-di" und "Dii-di-di".

Toy Blast, Level 380 (Foto: Rumpf/dpa)

Das eine Geräusch, das mit dem minimal längeren "i" am Anfang, das hören die Leute, wenn sie eine ältere Xbox einschalten. Das dynamischere, kräftigere, leistungsfähigere, das wird bei Konsolen der neueren Generation verwendet. Die Kunden, die heutzutage "Nutzer" genannt werden (weil "Kunde" nach "kaufen" und damit Geldausgeben klingt, "Nutzer" indes nach Gebrauch und nützlichem Erlebnis), sie sollen sich wohlfühlen, wenn sie diese Konsole einschalten, sie sollen glauben, dass sie nun etwas Einzigartiges erleben werden. Etwas, für das es sich lohnt, ein bisschen Zeit zu investieren.

Es gibt einen Kampf, und es könnte sein, dass die Nutzer zu Ausgenutzten werden

Dieses so schrecklich begrenzte und deshalb so kostbare Gut, die Zeit des Menschen, das ist der Heilige Gral der Unterhaltungsbranche. Wer es schafft, von den Leuten möglichst viel davon zu bekommen, der kann unfassbar reich werden. Kein Wunder, dass sie an der amerikanischen Pazifikküste, von Seattle hinunter nach San Francisco und Los Angeles bis nach San Diego, derart besessen sind davon, was die Leute mit ihrer Zeit anstellen. Es gibt einen erbitterten Kampf, jeder gegen jeden, und es könnte durchaus sein, dass die Nutzer dadurch zu Ausgenutzten werden. Kleines Experiment zur Veranschaulichung: Was haben die Leute vor 25 oder 30 Jahren in der U-Bahn oder im Bus getan? Sie haben ein Buch oder die Zeitung gelesen, Musik auf einem Walkman gehört, sich mit dem Sitznachbarn unterhalten, gestrickt, gehäkelt oder aus dem Fenster gestarrt. Die Möglichkeiten der Zerstreuung waren limitiert, und das bedeutete für Verlage oder Musiklabels, dass sie nur mit Produkten anderer Verlage oder Musiklabels um die Zeit des Menschen buhlen mussten. Die amerikanische Elektro-Fachmarktkette Radio Shack schaltete im Jahr 1991 eine ganzseitige Anzeige mit 15 Produkten wie zum Beispiel schnurloses Telefon, Computer mit Farbmonitor, CD-Spieler, Diktiergerät, Videokamera und Taschenrechner, die insgesamt 3284,72 Dollar kosteten.

Schnellvorlauf ins Jahr 2019. 13 der 15 damals feilgebotenen Produkte (außer ein Radargerät und gigantische Lautsprecher) sind mittlerweile auf jedem handelsüblichen Smartphone installiert oder werden mitgeliefert. Die Leute können nun auf dem Weg in die Arbeit oder nach Hause telefonieren, E-Mails beantworten, Einkäufe erledigen, Videospiele zocken, die Noten des Kindes überprüfen, Zeitungen oder ein Buch lesen, Musik hören, Texte schreiben, einen Film gucken, sich in sozialen Netzwerken herumtreiben, Fotos durchsehen, Sportergebnisse checken, eine Reise buchen, einen Pulli bestellen, Termine vereinbaren, Abendessen bestellen.

Fans des Spiels Fortnite verkleiden sich bei einem Wettbewerb in Polen als Charaktere aus dem Spiel. (Foto: BARTOSZ SIEDLIK/AFP)

Und hat schon mal jemand diesen verzweifelten Blick von Menschen bemerkt, wenn sich die Handy-Batterie dem Nullpunkt nähert? Wenn sie nicht mehr wissen, was sie dann mit sich und der Welt anfangen sollen? Wenn sie nervös auf ihren Sitzen rutschen und es so aussieht, als würden sie jeden Moment aufspringen und brüllen, was Nirvana-Sänger Kurt Cobain im Jahr 1991, übrigens gar nicht mal so weit entfernt vom Microsoft-Firmensitz entfernt, im Lied " Smells Like Teen Spirit" gebrüllt hat: "Here we are now, entertain us!" Hier sind wir nun, also unterhaltet uns gefälligst!

Am Firmensitz von Netflix im kalifornischen Los Gatos, November vergangenen Jahres. Das Streamingportal stellt die Episode "Bandersnatch" der Science-Fiction-Antologieserie Black Mirror vor, ein Experiment des britischen Geschichtenerzählers Charlie Brooker: ein interaktiver Film, den Leute nicht ein Mal ansehen, sondern mehrmals durchspielen und deshalb mehrere Stunden auf der Plattform verbringen sollen. Es ist eines dieser Alleinstellungsprodukte für Netflix, mit denen die Leute zum Abschließen eines Abonnements verführt werden sollen oder dazu, das bereits bestehende Abo nicht zu kündigen. Es ist sozusagen das "Di-di-di" des Streamingportals, so wie der kürzlich mit drei Oscars prämierte Film "Roma" des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón ein "Di-di-di" gewesen ist.

Eine Szene aus dem interaktiven Netflix-Film Bandersnatch. (Foto: Netflix)

Es gibt ja auch sehr viele "Dii-di-di"-Inhalte auf Netflix, die unzähligen und oftmals gar nicht witzigen Comedy-Specials zum Beispiel. Die Leute verbringen derart viel Zeit auf der Plattform, dass sie glauben, dass sich die Abo-Gebühr auf jeden Fall rentiert. Sie können sich den Zugang teilen, offiziell nur mit Mitgliedern desselben Haushalts, doch heißt es, dass weltweit etwa 24 Millionen Menschen über einen erschnorrten Zugang gucken. Netflix akzeptiert dieses sogenannte "Subscription Mooching". Noch, denn: Wer Netflix guckt, selbst wenn er es kostenlos tut, der verbringt derweil keine Zeit woanders und schließt vielleicht doch mal ein eigenes Abo ab.

Amazon, die eierlegende Wollmilchsau, ist überall dabei und meist sogar mittendrin

Das Unternehmen hat mit diesem Modell nicht nur die TV-Industrie revolutioniert, sondern gleich mehrere Branchen. Unterhaltung ist, so das Credo der Firma, "ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen - so wie Freundschaft". Nicht umsonst wird das Videospiel-Abo "GamePass" von Microsoft das "Netflix für Computerspiele" genannt, die Musik-Streamingportale Spotify und Pandora "Netflix der Musikindustrie", der Buchklub Kindle Unlimited von Amazon als "Netflix für Literatur" oder die Abo-Projekte verschiedener Kinobetreiber wie etwa AMC als "Netflix der Filmbranche" bezeichnet. Wer dabei immer genannt wird: Amazon, die eierlegende Wollmilchsau der Branche, die überall irgendwie dabei und meist sogar mittendrin ist. Gründer Jeff Bezos sagt nicht umsonst: "Wenn wir einen Filmpreis gewinnen, hilft uns das, mehr Schuhe zu verkaufen." Was das bedeutet, verdeutlicht dieser eine Satz von Netflix-Geschäftsführer Reed Hastings anlässlich der jüngsten Quartalszahlen, der einem so viel verrät über die Unterhaltungsbranche: "Wir wollen die Zeit der Leute gewinnen, die sie sonst auf andere Aktivitäten verwenden würden. Wir konkurrieren mit (und verlieren gegen) Fortnite eher als mit HBO."

HBO ist ein Pay-TV-Sender mit dem eigenem Streamingportal HBOGo, ein erwartbarer Konkurrent. Fortnite jedoch ist ein Computerspiel, das mit mehr als 200 Millionen Spielern weltweit über sämtliche Plattformen hinweg zum popkulturellen Phänomen geworden ist. Das geniale Geschäftsmodell von Hersteller Epic Games: Das Spiel selbst ist kostenlos, und die feilgebotenen Artikel wie Tänze und Verkleidungen bieten keinen spielerischen Vorteil, sondern dienen lediglich der Verschönerung oder dem Spielspaß. Wer so was kauft, wenn es doch nichts bringt? Dazu nur so viel: Das private Unternehmen hat der bestens informierten Technik-Newsseite Techcrunch zufolge im vergangenen Jahr drei Milliarden Dollar erwirtschaftet. Gewinn, wohlgemerkt, nicht Umsatz. Epic Games hat mit diesem Geschäftsmodell für ein Erdbeben in der Videospielbranche gesorgt, und das führt zurück zum Microsoft-Campus, Gebäude 4. Hier sitzen die Entwickler der Videospiel-Franchise "Halo", von dem auf der Videospielmesse E3 im Juni in Los Angeles der neueste Teil "Infinite" vorgestellt werden soll.

Eine Junge nutzt die Virtual-Reality-App Pokemon Go. (Foto: Remko De Waal/dpa)

Zwei Milliarden Videospieler gibt es derzeit weltweit, vier Milliarden Menschen haben Zugang zum Internet, und die wollen gefälligst unterhalten werden, womit auch immer. "Wir verdienen unser Geld damit, dass wir den Leuten ein Erlebnis bieten", sagt Microsoft-Spielechef Phil Spencer, einer der mächtigsten Manager im Unternehmen, während er einen cloudbasierten Streamingservice für Computerspiele vorstellt. Und dann sagt er diesen Satz, der so klingt wie der von Netflix-Chef Hastings: "Wir konkurrieren mit jedem, der seinen Nutzern Erfahrungen anbieten möchte."

Einige der einflussreichsten Unternehmen der Welt bewerben sich um dieses kostbare Gut, die Zeit des Menschen, zum Beispiel Microsoft (Jahresumsatz 2018: 110,4 Milliarden Dollar), Apple (265,6 Milliarden), Amazon (232,9 Milliarden), Alphabet (136,8 Milliarden), Facebook (55,8 Milliarden) und Netflix (15,8 Milliarden). Diese Firmen haben nicht nur die Kapazitäten, auf diese Entwicklung des Immer-und-überall-vernetzt-Seins zu reagieren, sie haben diesen Trend überhaupt erst ermöglicht und dürften ihn auch in Zukunft prägen. Das führt unweigerlich zu der Frage, was das für den Menschen bedeutet.

Wer die richtige Brille hat, sieht eine andere, erweiterte Realität. Ein Besucher beim Mobile World Congress in Barcelona Ende Februar. (Foto: Yves/Reuters)

Facebook zum Beispiel ist kostenlos, das hat zu diesem wahnwitzigen Nutzerwachstum geführt, und nun sorgt es dafür, dass selbst jene, die die Schnauze voll haben von der Datensammelei des Unternehmens, ihr Konto nicht zwingend löschen. Warum auch, ist doch umsonst. Das Videospiel Fortnite ist ebenfalls kostenlos, das Videoportal Youtube auch, und mal ehrlich: Kann ja passieren, dass man nur kurz ein Musikvideo gucken will und eine Stunde später aus dem Endlos-Nirvana der Videoschnipsel erwacht. Nur noch ein Pokémon sammeln. Noch eine Challenge bei Fortnite. Noch ein Level bei Toy Blast. Noch ein Video bei TikTok. Glaubt tatsächlich jemand, dass das zufällig passiert, dass man da andauernd überall hängen bleibt?

Es geht um die Zeit des Menschen, und es geht dabei um sehr viel Geld. Die Nutzer sollten wissen, dass dieser Kampf nicht unbedingt zu ihrem Wohl geführt wird. Da kann einer wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg noch so oft behaupten, dass er doch nur die Menschen miteinander verbinden wolle. "Wie bekommen wir möglichst viel von deiner Zeit und deiner bewussten Aufmerksamkeit?" Das war die Frage, die Facebook-Entwickler laut Investor und damaligem Facebook-Präsidenten Sean Parker bereits kurz nach der Firmengründung im Jahr 2004 beantworten sollten. Es sei, sagte Parker bei einer Podiumsdiskussion im Jahr 2017, darum gegangen, "eine Schwachstelle der menschlichen Psyche" zu finden. Oder, anders ausgedrückt: die Menschen süchtig nach dem sozialen Netzwerk zu machen.

Der Zweck heiligt die Mittel bei Facebook, das verdeutlichte ein internes Memo von Andrew Bosworth, verantwortlich für Augmented Reality und Virtual Reality, zwei Bereiche, bei denen die Leute bislang nur die Spitze des Eisbergs kennengelernt haben und in die sie künftig sehr viel Zeit investieren sollen. Bosworth schrieb vor einem Jahr an die Mitarbeiter diese Sätze, die dem Medienportal Buzzfeed zugespielt worden sind: "Wir verbinden Menschen. Punkt. Das ist der Grund, warum all die Arbeit, die wir in Wachstum stecken, gerechtfertigt ist. All die fragwürdigen Vorgehensweisen, um Kontakte zu importieren. All die subtile Sprache, die dazu beiträgt, dass Menschen weiter von Freunden gefunden werden können." Zuckerberg distanzierte sich von dem Memo, hat aber bisher kaum etwas getan, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen. Im Gegenteil: Das Unternehmen versucht derzeit, Kontaktinformationen seiner Plattformen Instagram, Whatsapp, Messenger und Facebook miteinander zu verbinden; zudem können Facebook-Nutzer nicht mehr verhindern, dass die Leute ein Konto über eine gespeicherte Telefonnummer finden können. Klar, Facebook als Bösewicht geht derzeit immer. Das wäre jedoch zu kurz gedacht. Die komplette Unterhaltungsindustrie lebt davon, die Nutzer süchtig nach ihren Angeboten zu machen, damit die möglichst viel Zeit dort verbringen. Auch jene, die gerade nicht als Bösewichter, sondern als visionäre Disruptoren gefeiert werden.

In den USA sollen knapp ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen süchtig nach Digitalem sein

Es ist nicht verwerflich, grandiose Inhalte zu entwickeln, die den Leuten derart gefallen, dass sie möglichst viel davon erleben wollen; so wie es für einen Bäcker überhaupt nicht verwerflich ist, grandiose Krapfen herzustellen, von denen die Kunden nicht genug bekommen können. Unterhaltung ist vielfältiger geworden, intellektuell fordernder, qualitativ hochwertiger, zugänglicher für mehr Menschen. Die meisten Unternehmen verstoßen weder gegen gültiges Recht, noch handeln sie moralisch verwerflich. Nur sollten die Kunden wissen, wenn der Bäcker nicht nur mit Mehl, Zucker und Eiern arbeitet, sondern jemanden beschäftigt, der süchtig machende Stoffe in den Hefeteig mischt - und dass vor der Bäckerei süße Lockstoffe versprüht werden. Dann werden die Kunden zu Verführten, die sich nur schwer noch wehren können, wenn milliardenschwere Unternehmen genau analysieren, wie sie die Leute süchtig machen können. Der Nutzer wird zum Ausgenutzten, auch wenn eine Dienstleistung oder eine App erst einmal kostenlos ist. Sie bezahlen mit ihrer Zeit, und neben ihrer Gesundheit ist dies das wertvollste Gut, das sie besitzen. In den USA sind einer Studie zufolge bereits knapp ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen süchtig nach Digitalem.

Die Verführer sind Unternehmen, die es sich leisten können, Psychologen zu beschäftigen und für einen siebenstelligen Betrag den leisesten Raum der Welt zu bauen, um darin zu überprüfen, ob "Di-di-di" wirklich dynamischer, kräftiger und leistungsfähiger daherkommt als "Dii-di-di". Es heißt, dass jemand, der länger als 45 Minuten am Stück in diesem Raum verbringt, verrückt werden könnte. Man kann drinnen nicht hören, was draußen passiert, von draußen dringt kein Geräusch nach innen. Es sind mehrere Leute in diesem Raum, unter ihnen eine junge Frau, mit der man vorher noch nie etwas zu tun hatte und deren Namen man nicht kennt. Die einzige Gemeinsamkeit, der einzige Berührungspunkt: Man ist nun mit ihr in diesem Würfel, die Mobiltelefone kommen sich für ein paar Minuten nahe - und direkt nach dem Besuch schlägt einem ein soziales Netzwerk doch tatsächlich vor, sich mit dieser Frau zu vernetzen.

© SZ vom 16.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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