Report:Wolken über dem Garten von England

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Die britische Regierung möchte nach dem Brexit die Zahl der Einwanderer senken. Doch viele Briten wollen deren Jobs gar nicht übernehmen. Zahlreichen Branchen droht Arbeitskräftemangel - etwa den Bauern.

Von Björn Finke, Offham

Die Wolken hängen grau und schwer über dem Acker und den waldigen Hügeln dahinter. Auf dem matschigen Feld steht ein Traktor, vor ihm vier Frauen und ein Mann mit Gummistiefeln, Handschuhen und Schirmmützen, obwohl die Sonne gar nicht scheint an diesem Herbstmorgen in der Grafschaft Kent. Die fünf Arbeiter wiederholen immer wieder die gleiche Prozedur: Sie beugen sich hinab, schneiden mit einem Messer einen Eisbergsalat ab, richten sich auf, zupfen Blätter weg und legen den Salatkopf auf das Förderband, das vorne an den Traktor montiert ist.

Beugen, schneiden, aufrichten. Stunde um Stunde, Meter um Meter. Sind alle Salatköpfe direkt vor dem Traktor abgeerntet, fährt dieser ein kleines Stück weiter. Und das Feld ist lang. Das Förderband transportiert die Köpfe in den Anhänger, wo eine Maschine sie mit einem schmatzenden Geräusch in durchsichtige Folie einwickelt. Dahinter steht ein Arbeiter, der die verpackten Salate in Pappkartons legt. "English Iceberg: grown in the Garden of England" ist darauf gedruckt: Eisbergsalat, angebaut im Garten von England. Als solcher Garten wird die Grafschaft Kent bezeichnet, wegen der vielen Bauernhöfe.

Doch die Ernte im Garten Englands fahren meist Osteuropäer ein. So ist das auch bei Laurence J. Betts. Dem Agrarunternehmen aus dem Dorf Offham, 45 Kilometer südwestlich von London, gehört der Acker mit den Salatköpfen. 120 Helfer aus Osteuropa, vor allem Rumänen, pflücken Grünzeug für den Familienbetrieb, einen der größten Salatproduzenten des Landes.

Osteuropäer dürfen als EU-Bürger problemlos auf der Insel arbeiten. Der Brexit könnte das aber ändern. Denn die britische Regierung will den Austritt im Jahr 2019 dafür nutzen, die Zahl der Einwanderer deutlich zu senken. Besonders für Geringqualifizierte soll es schwieriger werden einzureisen. Die konservative Regierung hat sich noch nicht auf Details festgelegt, doch jede Hürde für Geringqualifizierte dürfte wohl auch Erntehelfer treffen.

Entsprechend besorgt sind die Landwirte Ihrer Majestät. Etwa Nick Ottewell, der die Höfe von Laurence J. Betts leitet und nun mit schlammigen Stiefeln, schlammbesprenkelten Jeans und Fleecejacke auf dem Acker steht. "Ohne Arbeiter für die Ernte können wir nichts produzieren", sagt der 46-Jährige. "Die Briten müssen sich entscheiden, ob sie weiterhin einheimischen Salat auf dem Teller haben wollen."

Nach Schätzungen des Bauernverbands NFU beschäftigen die Landwirte mehr als 80 000 Erntehelfer, und die allermeisten kommen aus ärmeren EU-Staaten. Sie pflücken Äpfel und Erdbeeren, Salat und Kürbisse. Andere Branchen würden genauso leiden, wenn die Regierung gering qualifizierte Ausländer nicht mehr im gewohnten Umfang auf die Insel lässt. Der Hotel- und Gaststättenverband warnt, seine Mitglieder seien auf Rezeptionisten und Zimmermädchen, Kellnerinnen und Baristas aus der EU angewiesen. Vertreter der Lebensmittel- und der Bauindustrie und von Handelsketten schlagen ebenfalls Alarm: Ohne Ausländer vom Festland würden viele Stellen auf Baustellen, in Schlachthöfen oder Lagerhäusern unbesetzt bleiben.

Zumal Briten nicht gerade Schlange stehen vor den Arbeitsämtern. Die Arbeitslosenquote ist mit 4,3 Prozent so niedrig wie zuletzt vor vier Jahrzehnten. Doch Premierministerin Theresa May gibt sich finster entschlossen, nach dem Brexit endlich ein Versprechen einzulösen, das ihre Konservative Partei 2010 machte - und bisher immer brach. Die Tories verkündeten damals, sie würden die Netto-Migration, also die Zahl der Einwanderer abzüglich der Zahl der Auswanderer, auf unter 100 000 im Jahr drücken. Im vergangenen Jahr betrug der Wert 246 000: Ziel klar verfehlt.

Auf dem Hof von Nick Ottewell ernten Osteuropäer die Salatköpfe. (Foto: Björn Finke)

Zahlreiche Briten stimmten beim EU-Referendum für den Austritt, weil ihrer Meinung nach zu viele Ausländer auf der lieblichen grünen Insel leben. Nach dem Brexit muss das Land schließlich nicht mehr unbegrenzt Einwanderer aus Europa akzeptieren. Einige vollmundige Ankündigungen der Austritts-Kampagne erwiesen sich inzwischen als Luftnummern: Etwa die, dass die Regierung dank des Austritts 350 Millionen Pfund pro Woche mehr in den darbenden Gesundheitsdienst NHS stecken könne. Davon ist keine Rede mehr. Ähnlich hübsch war das Versprechen, es werde ganz simpel sein, sich mit der EU auf einen Freihandelsvertrag zu einigen.

Aber wenigstens beim Thema Einwanderung will May die Brexit-Wähler nicht enttäuschen. Sie versichert stets, dass die Zahl der Migranten sinken werde.

Das sind beunruhigende Aussichten für Salatbauer Ottewell und seine Erntehelfer. Eine der Frauen, die auf dem matschigen Acker Eisbergsalat erntet, ist Tudorita Stefan. Die Rumänin pflückt bereits im zehnten Jahr Grünzeug auf den Feldern von Laurence J. Betts. Dank ihrer Erfahrung stieg sie zur Teamleiterin auf; die Frau aus Bukarest ist nun Herrin über das Traktorgespann und die Pflücker. "Die Arbeit gefällt mir, darum bin ich so oft zurückgekommen", sagt sie in gebrochenem Englisch.

In Bukarest war sie früher als Buchhalterin tätig. Doch als ihr Mann eine Stelle als Lastwagenfahrer in England fand, suchte sie ebenfalls einen Job im Königreich - und landete auf den Äckern von Laurence J. Betts. Ihr Mann lebt inzwischen wieder mit den zwei Kindern in Rumänien, aber sie arbeitet in dieser Erntesaison erneut in Kent. "Im Sommer haben mich mein Mann und die Kinder hier besucht", sagt Stefan. Das Geld, das sie nach Rumänien schickt, half dabei, ein Haus zu bauen.

Die "hinreißenden Frauen" aus EU-Staaten sollten Arbeitslose auf die Höfe locken, sagt der Politiker

Der Großbauernhof, der auch 31 Festangestellte beschäftigt, zahlt den Erntehelfern den gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Pfund pro Stunde, das sind 8,40 Euro. Wer wie Teamchefin Stefan mehr Verantwortung übernimmt, erhält Zulagen. Die Erntesaison für die diversen Salatsorten beginnt Ende April und dauert sechs Monate. Die Helfer arbeiten in diesem halben Jahr 48 bis 60 Stunden pro Woche, montags bis samstags. "Sonntags nicht, weil die Eigentümerfamilie Betts gläubig ist", sagt Betriebsleiter Ottewell.

In den sechs Monaten verdienten die Helfer im Schnitt 11 000 Pfund, sagt der Manager, also 12 300 Euro. In Rumänien beträgt das Durchschnittsgehalt nach Steuern 510 Euro im Monat: Dieses Gefälle macht die anstrengende und eintönige Pflückerei in Kent attraktiv für Rumänen.

Daran ändert auch nichts, dass das Unternehmen 1000 der 11 000 Pfund für die Unterbringung abzieht. Neben den Lagerhallen und Schuppen der Church Farm, des Haupthofes von Laurence J. Betts, stehen auf einer Wiese Caravans auf Stelzen nebeneinander. Drei Arbeiter teilen sich jeweils eine der blechernen Wohnkisten. Auf dem Dach eines Caravans ist eine Satellitenschüssel befestigt, auf dem Gras davor ragt eine Wäschespinne in die Höhe. Der Bauernhof organisiert für die Erntehelfer Fahrten zu den Geschäften in den Nachbardörfern sowie Ausflüge an freien Tagen.

Doch die Arbeiter geben wenig Geld aus, sie sparen für die Heimat. Salatbauer Ottewell besuchte Rumänien dieses Jahr in den Osterferien und traf da langjährige Helfer. "Ich habe schöne Häuser gesehen, die mit unserem Lohn gebaut worden sind", sagt er. "Die Jobs verändern dort Leben." Um ihr Los zu verbessern, arbeiteten die Rumänen hart und brächten große Opfer, sagt Ottewell, "etwa die Mütter, die ihre Kinder zurücklassen". So wie Teamleiterin Stefan.

Nick Ottewell (Foto: Ben Stansall/AFP)

Viele Engländer würden diese Opferbereitschaft, diesen Fleiß einfach nicht sehen wollen, klagt der studierte Agrarwirt. Diese Briten wollten schlicht weniger Osteuropäer auf ihrer Insel haben. "Hier herrscht einiges an Rassismus, eine Wagenburgmentalität", sagt er. Der Hof liegt im Wahlkreis Tonbridge and Malling. Dort stimmten beim Referendum 55,7 Prozent der Bürger für den Austritt. Bei den Europawahlen 2014 wurde die EU-feindliche Partei Ukip stärkste Kraft im Wahlkreis Südost-England, zu dem die Grafschaft Kent gehört.

Ein beliebter Vorwurf von Einwanderungsgegnern auf der ganzen Welt lautet, dass Migranten Einheimischen die Jobs wegnähmen. Im Königreich arbeiten 2,37 Millionen Bürger aus anderen EU-Staaten, das sind sieben Prozent der Beschäftigten. Doch bei Jobs für Geringqualifizierte ist der Anteil der EU-Ausländer mehr als doppelt so hoch, sie besetzen 15 Prozent der Stellen. Es sind vor allem Osteuropäer, die diese schlecht bezahlten Tätigkeiten erledigen. Nach Lesart der Einwanderungsgegner drücken die Fremdlinge dadurch die Löhne und drängen ungelernte Briten in die Arbeitslosigkeit.

Ottewell kennt das Argument nur zu gut, und er bezeichnet es als "Müll". In ländlichen Regionen sei die Arbeitslosigkeit noch geringer als im Durchschnitt des Königreichs, sagt er. Es gebe keine Briten für die Jobs der osteuropäischen Erntehelfer.

Diese Einschätzung teilen andere Bauern und Verbandsvertreter: Arbeitslose Briten seien an einer Anstellung fürs ganze Jahr interessiert und nicht an einem Knochenjob für sechs Monate. Für den siedeln sie nicht aufs Land um - auch wenn ihnen das ein Parlamentarier von Mays Konservativen ans Herz legt. Brexit-Fan Craig Mackinlay sagte, er verstehe gar nicht, warum junge Arbeitslose nicht während der Erntezeit aufs Land umzögen, wo sie auf Farmen "mit massenhaft hinreißenden Frauen" aus EU-Staaten zusammenarbeiten könnten. Die Bemerkung kam nicht gut an.

Ottewells Hof nahm einmal an einem Versuch des Arbeitsamtes teil. Zehn von hundert Erntehelfern sollten Arbeitslose sein, die das Jobcenter in der Nachbarstadt Maidstone schickt. "Einen Monat vor der Ernte hieß es: Wir haben nur drei gefunden", sagt der Manager. Zwei seien schließlich erschienen. "Einer war kein Brite, sondern Afghane. Er benahm sich schlecht gegenüber den weiblichen Helfern. Darum musste er gehen." Der zweite, ein Engländer, habe sich wacker geschlagen, erinnert sich Ottewell. Der Mann kehrte im Jahr darauf zurück. "Aber da schmiss er während der Ernte hin und verklagte uns, weil wir schuld an seinen Rückenschmerzen seien", sagt Ottewell. Das Experiment des Jobcenters darf als gescheitert gelten.

Umso beunruhigender ist es da für die Bauern, dass bereits weniger Erntehelfer aus Osteuropa ins Königreich kommen wollen. Landwirte klagen in Umfragen über Probleme, Stellen zu besetzen; auf manchen Feldern konnten nicht alle Äpfel oder Himbeeren geerntet werden. "Auch bei uns gab es weniger Bewerbungen", sagt Ottewell. Früher hätten 30 bis 40 Namen auf der Warteliste in seinem Büro gestanden, "nun sind es zwei oder drei".

Ursache sei der Brexit, sagt er. Seit dem EU-Referendum hat das Pfund deutlich an Wert verloren. Für Osteuropäer macht das Jobs auf Bauernhöfen in Euro-Staaten attraktiver. "Außerdem schafft der Austritt Unsicherheit", sagt der Landwirt. Manche Helfer wollten nicht nur für die Erntesaison bleiben, sondern für mehrere Jahre. Der Saisonjob sei lediglich das Sprungbrett. "Solche Leute überlegen sich, was der Brexit für sie heißen könnte", sagt er.

Auf Ottewells Hof sind einige Erntehelfer zu Festangestellten aufgestiegen; sie leben und arbeiten nun das ganze Jahr über in Kent. Etwa Lavinia Danocel. Die 27-jährige Rumänin hat in der Heimat Landwirtschaft studiert, jetzt leitet sie ein Team von sieben Mitarbeitern, die im Kühllager gerade Blattsalat verpacken. Der Salat wird noch am Tag der Ernte abends nach London zum Großmarkt transportiert. Im Lager schiebt eine Frau mit einem Hubwagen eine Palette neben die Verpackungsmaschine. Auf der Palette sind Körbe voller Salatblätter gestapelt. Ein Mann kippt einen Korb auf das Fließband. Die Maschine reinigt die Blätter und füllt sie in Beutel ab.

"Engländer mögen diese Arbeit nicht", sagt die rumänische Teamleiterin

Die Arbeiter tragen Jacken und Mützen, die Halle ist ein Grad kalt. Laute Popmusik dudelt. Teamchefin Danocel erklärt über das Gedudel hinweg, was sie in ein frostiges Lagerhaus in Südengland verschlagen hat: "Ich brauche das Geld und mag die Arbeit", sagt sie. "Ich schicke meinen Eltern Geld, um sie zu unterstützen." Dabei leidet sie unter der Abwertung des Pfund. Früher habe sie sechs rumänische Lei für ein Pfund erhalten, "jetzt sind es bloß fünf".

Dass Bauern wie Ottewell auf Arbeiter aus dem Ausland angewiesen sind, ist keine britische Besonderheit. In anderen reichen EU-Staaten, zum Beispiel Deutschland, sind ebenfalls Erntehelfer aus ärmeren Ländern tätig. In den USA kümmern sich Mexikaner um die Felder, in Neuseeland und Australien Einwanderer von den Pazifikinseln. Bevor die osteuropäischen Staaten 2004 EU-Mitglieder wurden, kamen Erntehelfer aus Südeuropa nach Großbritannien. Zudem reisten Arbeiter von Staaten außerhalb der EU an, etwa aus Russland, mit besonderen Visa für Erntehelfer. Dieses Visa-Programm schaffte die Regierung ab, weil es durch die EU-Osterweiterung überflüssig geworden war.

Auch Ottewells Salathof beschäftigte früher Russen und Weißrussen. Dürfen Osteuropäer nach dem Brexit nicht mehr automatisch in Großbritannien arbeiten, müsse die Regierung wieder ein spezielles Visa-Programm für Erntehelfer auflegen, verlangt der Manager, der dem Bauernverband in der Grafschaft Kent vorsitzt.

Einwanderungsgegner argumentieren, Landwirte sollten einfach mehr in Maschinen investieren, dann bräuchten sie nicht so viele ausländische Helfer. Ottewell sagt aber, es werde bestimmt noch zehn bis 15 Jahre dauern, bis Ernteroboter für weiche Früchte wie Erdbeeren oder für Salatköpfe ausgereift und bezahlbar seien. Bis dahin sei Ernte Handarbeit.

Er investiert jedoch schon in Maschinen, die diese Handarbeit wirtschaftlicher machen. Davon profitiert das Team von Tudorita Stefan. Die Verpackungsmaschine auf dem Anhänger des Traktors ist neu; sie kostete 100 000 Pfund. Vor dieser Anschaffung wickelten Helfer die Salatköpfe ein. Das mühselige Abschneiden, Aufheben und Ablegen der Köpfe bleibt dagegen bis auf Weiteres Menschen vorbehalten. Auch nach dem EU-Austritt würden das wohl ausländische Erntehelfer wie sie selbst sein, schätzt Teamleiterin Stefan. "Engländer mögen diese Arbeit nicht", sagt sie.

Das stimmt sicherlich. Ungewiss aber ist, ob solch banale Erkenntnisse Theresa May von ihrem Kreuzzug gegen die Einwanderung abbringen. Auf eine Antwort auf diese Frage warten nicht nur Tudorita Stefan und Nick Ottewell. Darauf wartet das ganze Land.

© SZ vom 11.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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