Report:In der Schmerzzone

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Erst gegeneinander, jetzt miteinander: Die Mitarbeiter der Lkw-Hersteller MAN und Scania erleben gerade, wie aus Rivalen Partner werden. Demnächst folgt der Börsengang. Die Geschichte einer Annäherung.

Von Thomas Fromm

Es gibt Menschen, die waren Feinde, und dann werden sie irgendwann zu Freunden. Und es gibt Unternehmen, die waren lange Zeit knallharte Gegner, und sollen dann auf einmal zusammenarbeiten. Wenn zwei Lkw-Bauer wie Scania und MAN, die vor Jahren mal Feinde waren, Freunde werden sollen, dann lohnt es sich nachzusehen, was es da so an Gemeinsamkeiten gibt. Beide bauen schwere Lkw und Busse, beide sind ziemlich stolz darauf und beide gehören zum Volkswagen-Konzern. Und dann gibt es da natürlich noch einige grundsätzliche Dinge, die bei Scania im schwedischen Södertälje auch nicht viel anders sind als in München bei MAN. Das Wetter Ende November, Anfang Dezember zum Beispiel. Neblig, kalt, und grau.

Es ist gegen 13 Uhr und nasskalt in Södertälje, als Lisa Lorentzon in einem dunklen Sakko durch die alten Hallen des Scania-Museums geht, sich in einem kleinen Nebenraum an einen Tisch setzt und etwas sehr Programmatisches sagt: "Wir möchten überhaupt nicht, dass unsere Kulturen verschmelzen, wir wollen unsere Unterschiede erhalten. Wir nennen das in der Gruppe Pluralismus." Lisa Lorentzon hat vor elf Jahren als Trainee bei Scania angefangen, heute kümmert sie sich in der Arbeitnehmervertretung um die Akademiker. Sie spricht sehr leise, sehr ruhig, und sehr bedächtig. Die sehr stille Lisa Lorentzon passt also nicht unbedingt zu den schweren und lauten 40-Tonnern, die da draußen auf dem nebligen Hof stehen.

1600 Kilometer südlich von Södertälje sitzt im Münchner Stadtteil Allach ein Mann, der Saki Stimoniaris heißt. Er trägt einen braunen Rollkragenpullover und über seinem Schreibtisch in seinem kleinen Büro hängt ein Che-Guevara-Poster, das die Revolution hochleben lässt. Der Revolutionär sitzt vor einer Tasse mit dunklem Kaffee, draußen wabert der Nebel über den Parkplatz. Der MAN-Betriebsratschef ist seit 20 Jahren bei MAN, er sitzt nebenbei im Aufsichtsrat des TSV 1860 München und betätigt sich als Stimme des Löwen-Investors Hasan Ismaik. Münchnerischer geht es also kaum. Stimoniaris ruft: "Ich bleibe mein Leben lang MANler."

Die Frage, die sie sich stellt: Wie kann man Partner werden, ohne sich dabei zu verlieren?

Das klingt etwas anders als Lisa Lorentzons Ausführungen zum Pluralismus, aber beide meinen am Ende wohl dasselbe. Der Münchner, der sein Leben lang MANler bleiben will, trifft seit einiger Zeit regelmäßig Menschen wie Lisa Lorentzon. Und dann geht es meistens um die Frage aller Fragen: Wie können Scania und MAN zusammenarbeiten und trotzdem Scania und MAN bleiben? Partner in der Fabrik sein, aber Wettbewerber auf der Straße - wie kriegt man das hin mit zwei so bekannten Lkw-Marken, die noch dazu Teil einer Konzerngruppe sind, die zu VW gehört und seit Kurzem Traton heißt?

Das alles ist kompliziert, aber es wird wohl noch komplizierter, denn VW könnte seine Truck-Tochter Traton mit den Marken MAN, Scania und der südamerikanischen Tochter Volkswagen Caminhões e Ônibus aus Brasilien im nächsten Frühjahr an die Börse geben. 20 bis 25 Prozent der Traton-Anteile an der Börse - VW könnte die Milliarden, die ein solcher Börsengang einbringen würde, in Zeiten des Dieselskandals gut gebrauchen. Vor allem aber: Mit 81 000 Mitarbeitern und einem Umsatz von 24 Milliarden Euro wäre die Gruppe dann einer der ganz großen, börsennotierten Lkw-Konzerne. Mit Tochtergesellschaften, die nach wie vor im Wettbewerb miteinander stehen - ein hochinteressantes Projekt.

Und ein schwieriger Spagat. Wenn man Unternehmen zur Kooperation verdonnert, dann geht es in der Regel darum, bei milliardenschweren Investitionen in neue Technologien oder beim Einkauf viel Geld zu sparen. Zusammen ist man weniger allein, wenn es darum geht, sich gegen die viel größeren Rivalen Daimler und Volvo durchzusetzen. Nur wie macht man das, ohne dass sich die Menschen in diesen stolzen Unternehmen ständig in die Haare kriegen? An dieser Stelle kommt Andreas Renschler ins Spiel, ein Mann, der früher einmal bei Daimler für Lkw zuständig war, heute Traton führt und von einem "global champion" spricht, wenn er von der Zukunft dieses Unternehmens redet. Er sagt: "Eine solche Chance, zwei Lkw-Bauer zu einem großen Ganzen zusammenzubringen, gibt es nicht so oft."

Der 60-jährige Renschler ist derjenige, der die Aufgaben jetzt verteilen und darauf achten muss, dass sich keiner benachteiligt fühlt. Leute, die ihn schon lange kennen, beschreiben ihn als authentisch und sehr direkt. Ein Manager ohne Allüren, dafür mit viel Autorität - die er auch einzusetzen weiß. Unter Renschler sei das Projekt "stark vorangetrieben" worden - auch wenn er manchmal auf Widerstand im Konzern gestoßen sei.

Seit Februar 2015 ist Renschler Chef der VW-Nutzfahrzeugsparte, seitdem hat er die ungleichen Partner an einen Tisch gesetzt. Bisheriges Ergebnis: Scania baut Getriebe, auch für MAN. MAN baut Achsen, auch für die Schweden. Und zum ersten Mal haben beide einen gemeinsamen Motor entwickelt. Der soll zuerst bei Scania, später bei MAN eingesetzt werden. "Natürlich sagen einzelne Mitarbeiter immer noch: Mein Motor, meine Achse, mein Getriebe, mein Arbeitsplatz", sagt MAN-Betriebsratschef Stimoniaris. "Deshalb: Ja, MAN wird immer MAN sein, Scania immer Scania. Aber dennoch können wir gar nicht anders, als eng zusammenzuarbeiten."

Nun ist das mit den Motoren und den Achsen nicht so einfach, wie es aussieht. Scania und MAN sind nämlich sehr unterschiedlich, was schon damit anfängt, dass ein Scania-Lkw einige Tausend Euro mehr kostet als einer von MAN. Einige in der Szene vergleichen die beiden so: Wäre Scania ein Pkw-Hersteller, dann würden die Schweden wahrscheinlich so etwas wie Rolls-Royce-Limousinen bauen - Edles für eine kleine, ausgewählte Kundschaft. Aus München kämen dann - um im Bild zu bleiben - die Golfs und Passats. Solide und bodenständige Ware für den Massenmarkt. Eine sichere Bank, aber eben nicht hochpreisiges Premium. "Die Kunst besteht darin, zusammenzuarbeiten und sich am Ende trotzdem zu unterscheiden", sagt Scania-Chef Henrik Henriksson. "Und es geht darum, wer zuerst mit welchen Innovationen nach außen geht." Henriksson empfängt in einer modernen Start-up-Etage vor dem Stockholmer Hauptbahnhof. Er kommt mit der Kaffeetasse in den Konferenzraum, krawattenlos. Sein blaues Jackett wirft er über den Stuhl. Die Sache mit dem Pluralismus beschäftigt ihn sehr, und deshalb macht er gleich mal klar: "Wir werden uns in den kommenden Jahren nach wie vor bei wichtigen Komponenten unterscheiden; bei Turboladern oder Software etwa." Auch beim Service und im Vertrieb wolle man seinen eigenen Weg gehen.

Die Geschichte begann mit einer schweren Kränkung - und den Wunden danach

Henriksson kennt das Risiko: Wenn sich Scania und MAN zu ähnlich werden, kann er nicht mehr ein paar Tausend Euro mehr für seine Trucks verlangen.

In München sitzt Joachim Drees im sogenannten Truck-Forum, einer große Halle, in der der Lkw-Hersteller seine Produkte ausstellt. Da es hier um große Produkte geht, ist die Halle sehr groß. Der MAN-Chef spricht mit seinem Partner Henriksson oft über die Frage, was geht, und was nicht. MAN und Scania? "Am Anfang haben beide jede Gelegenheit genutzt, um nicht zusammenzuarbeiten", erinnert sich Drees. "Man muss das auch verstehen: So mancher Ingenieur ist von seiner Technologie und auch von sich überzeugt. Und dann ist ihm natürlich sein eigenes Unternehmen am nächsten. Das ist ja auch menschlich." Irgendwann aber müsse man die Sache moderieren - und den Leuten sagen: "Wir brauchen doch jetzt den besten gemeinsamen Motor."

Szenen einer Ehe: Vor einiger Zeit haben sie bei MAN einen Zeichner eingeladen, der bei den Arbeitsgruppen dabei war und aufmalte, was ihm zu dem, was er sah und hörte, einfiel. Herausgekommen ist eine interessante Mischung aus Comic, Managementanalyse und Gruppentherapie: Beim "MAN-Marathon" springen die gezeichneten Figuren über eine Hürde, die der Zeichner "Bereichsgrenze" nennt. Einer der Marathonläufer fragt: "Sind wir bald da?" Ein anderer sagt: "Je später ihr startet, desto schwieriger wird es." Sie laufen auf einen großen Graben zu, der "Überwindung" heißt. Wer es rüberschafft, steht vor einem Schild: "Willkommen in der Schmerzzone." Dahinter dann noch ein Schild: "Strecke im Bau." Irgendwo weiter hinten: das Ziel. Und so laufen gerade Tausende, quer durch die Schmerzzone, auf ein Ziel zu.

"Die Leute waren jahrelang ziemlich verunsichert", sagt die Scania-Frau Lisa Lorentzon. "Sie fragten sich ständig: Was soll ich tun? Was darf ich tun? Wem muss ich loyal gegenüber sein?"

Wenn Menschen nicht mehr so genau wissen, was erlaubt ist und was nicht, dann hat das oft eine Vorgeschichte. Bei MAN und Scania ist es die Geschichte einer großen Kränkung - und des jahrelangen Versuchs, die Wunden von einst zu heilen. Eine Geschichte, die alles hat: Starke Charaktere, Intrigen, Neid und schwere Trucks. Am Anfang der Geschichte steht einer der ältesten Konzerne der Welt: MAN. Man kann die Geschichte dieses Unternehmens bis ins Jahr 1758 zurückverfolgen, als in Oberhausen das Eisenhüttenwerk St. Antony seine Arbeit aufnahm. Es kamen später dazu: eine Maschinenfabrik in Augsburg, Dieselmotoren, später dann Busse, Lkw und vieles mehr. Sehr groß, sehr stolz, und lange Zeit ein Dax-Konzern - so weit die Historie.

Vielleicht wäre es ja noch eine Weile so weitergegangen mit dieser alten Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, wenn Anfang 2005 nicht ein Lkw-Manager namens Håkan Samuelsson die Führung in München übernommen hätte. MAN war im Laufe der Jahre ein Gemischtwarenladen mit Industriedienstleistungen, Druckmaschinen, Dieselmotoren und Turbomaschinen geworden, und Samuelsson verkaufte zuerst die Mehrheit seines Tochterunternehmens MAN Roland Druckmaschinen an einen Finanzinvestor, ein paar Jahre später fiel auch der Essener Industriedienstleister Ferrostaal aus dem Unternehmen. Und da der Schwede Samuelsson schon damals der Meinung war, dass die Münchner sehr eng mit seinem früheren Arbeitgeber Scania zusammenarbeiten sollten, lancierte er ein Übernahmeangebot für die Schweden - und scheiterte. Aber, immerhin: Die Idee eines großen Lkw-Konzerns aus MAN und Scania war da geboren.

Der Machtkampf blieb nicht ohne Folgen, die Beziehung war auf Jahre hin vergiftet. MAN gegen Scania - der damalige Scania-Chef Leif Östling sah sich sogar an den Zweiten Weltkrieg erinnert: "Der Deutsche ist ja Experte beim Blitzkrieg", sagte er. Allerdings habe "man auch etliche davon verloren". Zwei große Lkw-Hersteller, zwei schwedische Manager: In der Branche wurde spekuliert, ob das Duell nicht im Grunde ein Duell von zwei Männern war, bei dem sehr persönliche Themen eine Rolle gespielt haben. Am Ende gewannen weder Schweden noch Deutsche, sondern ein Österreicher. Er hieß Ferdinand Piëch und war Großaktionär und Aufsichtsratschef des VW-Konzerns. Samuelsson hatte zu spät verstanden, dass Piëch selbst ein Auge auf die Schweden geworfen hatte. Dumm gelaufen. Am Ende landeten sowohl Scania wie auch das alte Dax-Schwergewicht aus München unter den Fittichen von VW.

Sie bauen zusammen Lkw und Busse: Scania-Chef Henrik Henriksson (links), Traton-Chef Andreas Renschler (Mitte) und Joachim Drees von MAN. (Foto: Traton/PR)

Man muss diesen Wirtschaftskrimi kennen, wenn man das Drama der Folgejahre verstehen will. "Auf den Power-Point-Präsentationen im Konzernvorstand waren wir plötzlich die Marke Nr. 11 oder 12", erinnert sich MAN-Betriebsrat Stimoniaris. Zuerst wurde im Vorstand über sämtliche Automarken geredet - am Schluss dann kamen die Lkw dran. "VW managt die Dinge immer aus der Perspektive der Autoindustrie", sagt Traton-Chef Renschler. "Ein Lkw-Unternehmen funktioniert aber nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als ein Autohersteller." Wer Lkw verkauft, verkauft nicht an Familienväter, Vertriebsmanager oder Sonntagsfahrer. Er verkauft an Speditionsfirmen, und die wollen mit ihren Lkws vor allem eines: Waren transportieren und damit Geld verdienen. Deshalb sagt einer aus der Branche: "Das Geschäft mit Lkws und Bussen hat wahrscheinlich mehr mit dem Verkauf von Gasturbinen an einen Kraftwerksbauer als mit dem von Autos zu tun."

Viele Lkw-Leute fühlten sich in dem großen Autokonzern plötzlich unwichtig, an den Rand gedrängt. "Aus Sicht der anderen VW-Töchter waren die Trucker immer eine ganz eigene Welt für sich", sagt einer, der dabei war. Bis man verstand, dass die Uhren bei MAN und Scania anders laufen als bei Audi und Seat, verging viel Zeit. "Es gab Monate, da steckte das Unternehmen in einer Art Massendepression", sagt einer, der MAN gut kennt. Das sei mit der Zeit dann aber besser geworden.

Nur an den neuen Holding-Namen muss man sich erst mal gewöhnen: Traton soll nach den Vorstellungen der Manager für Tradition stehen, für Transport, für Transformation oder auch für Tonnage. In Wahrheit ist es natürlich ein Kunstwort und steht für gar nichts. Aber irgendwie hat dieses neue Gebilde auch eine starke symbolische Bedeutung: Jahrzehntelang haben die Wolfsburger nur Marken gesammelt. Lamborghini, Seat, Skoda, Ducati, MAN, Scania. Jetzt müssen sie zeigen, dass sie auch mal etwas abgeben können.

Im Alltag hat die Liaison von MAN und Scania längst ein Eigenleben entwickelt. Es gibt Szenen, die sehr viel aussagen über das neue Zusammenspiel der beiden. Vor ein paar Jahren, als man anfing, sich öfter zu treffen, kamen die Vertreter von MAN zu den Meetings und trugen Krawatten, weil man das immer so machte. Die Scania-Kollegen trugen keine Krawatte, weil sie fast nie Krawatten trugen. Beim nächsten Meeting erschienen die Deutschen ohne Krawatte, weil sie so sein wollten wie die Schweden. Die Schweden dagegen entschlossen sich, ausnahmsweise mal Krawatten anzulegen - aus Respekt vor den Deutschen. "So kamen sie dann mit ihren alten Krawatten zu den Meetings", erinnert sich einer.

Die Geschichte begann mit einer schweren Kränkung - und den Wunden danach

Es ist November 2018, und Atif Askar, der Strategiechef von Traton, kommt in München ohne Krawatte zum Gespräch und sagt, dass Krawatten aus der Mode seien bei dem alten Lkw-Bauer. Er berichtet über die Zukunft, von der Digitalisierung, von selbstfahrenden Lkw, von elektrischen Motoren. Wenn Schweden und Deutsche zusammenarbeiten, dann kann man viel über gemeinsame große Motoren reden. Es setzt allerdings voraus, dass das, was der eine sagt, auch beim anderen ankommt. Der Strategiechef Askar weiß, dass das nicht immer so einfach ist. "Schweden sind oft nicht so direkt wie wir Deutsche; vielleicht eher vergleichbar mit Japanern. Es gibt fünf verschiedene Arten, Ja zu sagen, von denen vier im Grunde ein sehr höfliches Nein bedeuten können. Wir mussten also nicht nur zwei sehr verschiedene Lkw-Hersteller zusammenbekommen, sondern auch zwei unterschiedliche Kulturen." Im Geschäft mit großen Trucks gibt es viele kleine Missverständnisse.

Eines ist inzwischen klar, in München und in Södertälje: Jahre, nachdem Håkan Samuelsson Scania übernehmen wollte, ist man sich am Ende doch ziemlich nahe gekommen - wenn auch irgendwie ganz anders, als sich der Schwede das damals vorgestellt hatte.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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