Report:Alles eins

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Gemeinsames Eigentum an Grund und Boden - funktioniert dieses Allmende-System auch heute noch? Ein Besuch auf der Hallig Gröde.

Von Thomas Hahn, Gröde

Drei Männer stehen am Anleger von Gröde und schauen aufs Wasser. Die Nordsee glitzert im matten Sonnenlicht. Über den Himmel zieht eine Karawane aus Wolken, die wie Elefanten aussehen. Und durch diese bewegte Weite aus hellen Grautönen schiebt sich langsam das Schiff, auf das die Männer warten. Es wird den Anhänger bringen, den der Bauer Reiner Mommsen braucht, um ein krankes Rind aufs Festland zu bringen. Die beiden anderen, Volker Mommsen und Jürgen Kolk, sind gekommen, um ihm zu helfen. Sie wechseln nicht viele Worte. Sie wissen, was zu tun ist und was sie ausblenden müssen, damit sie zusammen ihre Arbeit machen können. Sie sind Allmende-Bauern, das verbindet sie. Das verschweißt sie regelrecht zu einer Einheit, die kein Streit auseinanderbringen kann.

Die Allmende. Sie ist fast ausgestorben, und doch so etwas wie die ewige Alternative zu Privatunternehmen und Staatsplan. Der Begriff stammt aus dem Mittelalter, als die Menschen die Landwirtschaft noch nicht mit Massenproduktion und Exporthandel verbanden, sondern vor allem mit der Sorge, genug zu essen zu haben. Er bezeichnete das Grundeigentum einer Dorfgemeinschaft innerhalb einer bestimmten Gemarkung. Es war damals üblich, dass alle im Dorf dieses Land mit Wiesen, Wäldern und Gewässern nutzen durften, dort Vieh weiden ließen, Holz schlugen, wildes Obst sammelten, jagten, fischten.

Heute steht die Allmende für ein Prinzip der Bewirtschaftung, das im Grunde schon abgeschrieben war, und zwar nicht nur von Anhängern der Privatisierung, sondern auch von Umweltschützern. "Die Tragödie der Allmende" heißt ein berühmter Aufsatz des US-Ökologen Garrett Hardin von 1968. Er beschreibt das unvermeidliche Schicksal rivalisierender Bauern, wenn sie ohne regelnde Eingriffe des Staates eine gemeinsame Weide nutzen: Weil jeder so viel Vieh wie möglich haben will, beuten sie das Land aus und zerstören es.

"Allmende ist kein Patentrezept, aber sie ist viel effektiver, als im Allgemeinen gedacht."

Hardins Landsfrau Elinor Ostrom, Politikwissenschaftlerin aus Bloomington, stellte 1990 in ihrem Buch "Die Verfassung der Allmende" den Gegenentwurf zu Hardins Denken vor. Sie zeigte, dass das gemeinschaftliche Bewirtschaften von Land unter bestimmten Umständen besser für Umwelt und Auskommen sein kann, als wenn es Privatbesitzer bestellen oder Behörden Vorschriften machen. 2009, drei Jahre vor ihrem Tod, wurde sie deshalb zur ersten Frau, die den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewann. "Die Allmende ist kein Patentrezept", sagte sie damals, "aber sie ist viel effektiver als im Allgemeinen gedacht." Als Beispiel nannte sie die Hummer-Fischer von Maine, die in den 1920ern den Hummer in ihren Gewässern fast ausgerottet hatten. Sie erkannten die Gefahr, überdachten ihr Vorgehen und entwickelten gemeinsam Regeln und Kontrollmechanismen, unter denen sich die Hummerbestände erholen konnten. So ähnlich pflegen auch die Allmende-Bauern von Gröde ihre natürliche Lebensgrundlage.

Volker Mommsen, 60, sitzt in seiner Küche. Jürgen Kolk, 54, ist auch da. Gemeinsam erzählen sie von ihrem Leben jenseits der Ego-Gesellschaft mitten im Wattenmeer vor Schleswig-Holsteins Westküste. Gröde ist eine Hallig, ein Flecken Marschland im Meer also, das so knapp über dem Wasserspiegel liegt, dass es bei Sturm in der See verschwinden kann. Nur sieben Menschen leben hier. Sie wohnen auf einer von zwei Warften, den künstlich aufgeworfenen Hügeln, auf denen es bei Land unter trocken bleibt. Tourismus ist für sie alle Teil ihres Broterwerbs, Jürgen Kolk und seine Frau Sabine haben Ferienwohnungen. Monika Mommsen, die Frau von Volker, betreibt den Kiosk vor dem Haus, die einzige Einkaufsmöglichkeit auf Gröde. Die Männer sind zudem beim Land Schleswig-Holstein als Küstenschützer angestellt, pflegen die Sommerdeiche, befestigen Ufer und Watt, sehen zu, dass es die Hallig bei Sturmfluten nicht davonspült. Die Landwirtschaft ist ihr drittes Standbein. Die Allmende. Vier Bauern haben gemeinsam 170 Hektar Land, heute wie vor 100 Jahren.

250 Hektar, kreisrund - nur noch sieben Menschen leben heute auf der Hallig Gröde. (Foto: Sabine Lubenow/Lookphotos)

"Die Art der Bewirtschaftung auf Gröde ist vorgegeben", sagt Volker Mommsen.

"Wenn man das nicht will, sollte man nicht hierherziehen", sagt Jürgen Kolk.

Die beiden sind sich irgendwie ähnlich, naturschlank, standhaft, ihre Gesichter vom Wetter gegerbt. Die Allmende ist ein Erbe, das sie gerne angetreten haben. Früher gab es diese Bewirtschaftungsform auf allen Halligen des nordfriesischen Wattenmeers. Bis in den Fünfzigerjahren die große Flurbereinigung kam und die Hallig-Bauern fortan ihr eigenes, abgegrenztes Stück Land hatten. Nur auf Gröde gab es keine Flurbereinigung, vermutlich aus praktischen Gründen. "Es gibt bei uns an den unterschiedlichen Ecken ganz unterschiedliche Ländereien, von der Qualität her", sagt Kolk. Obwohl die Hallig so klein ist? "Na ja, klein", sagt Mommsen mit leisem Widerspruch. "Das sind gute 250 Hektar, relativ kompakt, kreisrund. Es wäre unheimlich schwierig, das Land gerecht aufzuteilen."

Im Gemeinderat muss alles einstimmig beschlossen werden. Das kann erschöpfend sein.

Also blieb die Allmende. Weiter ging das System der Selbstbeschränkung, in dem die Bauern miteinander darauf achteten, dass es gerecht zuging auf dem ruppigen, von Prielen und Senken durchzogenen Halligboden. Nach festen Intervallen tauschten sie die Landstücke, damit jeder mal sein Vieh und seine Schafe auf den fettesten Salzwiesen weiden lassen konnte. Volker Mommsen kam 1964 mit seinen Eltern nach Gröde, er erinnert sich: "Es gab ein Fennenbuch, in dem ein Schriftführer genau eintrug, wer wann wo wie viele Tiere zum Grasen hatte."

Heute läuft die Allmende auf Gröde etwas anders. Es gibt keine Milchkühe mehr, keine Schweine und Heubergung nur noch für die Schafe. Die Bauern übernehmen Pensionsvieh von Betrieben auf dem Festland und halten es als eine große zusammenstehende Herde auf den Flächen der Hallig. Immer wieder auf anderen, damit die Rinder gleichmäßig grasen. "Die Ortskommission ist immer ganz begeistert, wie ursprünglich hier noch die Salzwiesenlandschaft ist", sagt Kolk. Grödes Allmende schont die Natur.

Aber Nachteile gibt es auch. Grödes Bauern bekommen Fördergelder für ihr naturnahes Wirken, jedes Jahr ergibt sich daraus eine aufwendige Antragsprozedur. Die Behörden sind feste Eigentumsflächen gewohnt, aber die haben Grödes Bauern ja nicht. "Allmende ist in diesem Programm nicht vorgesehen", sagt Kolk. Mit Einverständnis der Behörden rechnen sie ihre Anteile immer so um, dass am Ende doch eine feste Fläche für jeden dasteht. Kompliziert. Zukunftsfähig? "Da kommen wir in die Konflikte, über die wir uns unterhalten müssen", sagt Mommsen. Soll alles so bleiben, wie es ist? Oder sollten Grödes Allmende-Bauern nicht besser eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gründen, um die gemeinsame Sache bündiger abwickeln zu können? "Die einen finden das eine gut, die anderen das andere", sagt Kolk und belässt es dabei. Gröder Privatsache. Außerdem müssen sie los. Mommsen hat aufs Wasser geschaut. "Fähre da?", fragt Kolk. "Gleich, ja", sagt Mommsen.

Die Hilligenlei stößt sachte gegen den Anleger. Die Taue fliegen. Die Männer bringen die Rampen in Position, damit ein Trecker den Anhänger von Bord bringen kann. Reiner Mommsens Traktor parkt am Fuße des Anlegers, und wenig später knattert er über den schmalen Asphaltweg am Deich mit dem Anhänger Richtung Knudtswarft. Für den nächsten Vormittag sind die Allmende-Bauern bei der Weide verabredet. Dann werden sie zusammen das kranke Rind einfangen.

Jürgen Kolk ist promovierter Historiker. Vor 13 Jahren übernahm er den Hof seines Onkels und zog auf die Hallig, seine Frau und die Kinder kamen mit. (Foto: Thomas Hahn)

Volker Mommsen sitzt wieder in seiner Küche, er wirkt nachdenklich. Seit diesem Frühjahr ist er nicht mehr Bürgermeister. 30 Jahre lang hatte er das Amt inne und hat darin die Veränderungen auf der Hallig begleitet. 19 Leute lebten früher auf Gröde, es gab Kinder, Erwachsene, Alte. Auf der Kirchwarft, deren großes, ehrwürdiges Reetdachhaus jetzt leer steht, lief der Schulbetrieb mit eigenem Lehrer. "Es war damals eine intakte Dorfgemeinschaft mit allem, was dazugehört", sagt Mommsen. Deshalb wurden damals auch die Konflikte nicht so oft groß wie heute. Die Gelassenheit der Alten, der Anspruch, für die Kinder ein Vorbild zu sein - das hat früher so manchen Zorn gezügelt. Heute bricht er auch mal aus und trifft die anderen direkt. Alle Gröder sitzen im Gemeinderat, wie sich das gehört für eine Gemeinde mit weniger als 70 Einwohnern, Einstimmigkeit ist die Voraussetzung für jeden Beschluss. Das kann erschöpfend sein.

"Das ist hier nicht Bullerbü, wo immer eitel Sonnenschein ist", sagt Mommsen. Er findet das in Ordnung. Bullerbü wäre ihm zu langweilig. Trotzdem. "Manchmal mag ich es nicht." Ist es friedlich oder anstrengend auf Gröde? "Friedlich anstrengend", antwortet Volker Mommsen und lacht.

Die Allmende immerhin vereint alle hinter einer Aufgabe und einem System, an dem niemand grundsätzlich zweifelt. "Das ist eine Wirtschaftsform, die der Hallig guttut", sagt Mommsen, "gerade dieses Jahr hat man das wieder gesehen." Die Trockenheit des Jahrhundertsommers traf auch Gröde. Viele Gräben, die sonst Wasser führen, sind immer noch leer. Aber wegen der gleichmäßigen Beweidung ist keine Wiese dürr geworden. Die 85 Rinder der Allmende-Bauern hatten immer genug zu grasen, und die Schafe auch. "Die Allmende funktioniert", sagt Volker Mommsen.

Am nächsten Morgen haben sich die Elefantenwolken zu einer dichten Decke zusammengeschlossen. Der Wind wühlt im Schilf am Fething, dem kleinen Wasserspeicher in der Mitte der Knudtswarft. Die Nordsee ist rau. Es regnet. Der Herbst kündigt sich an. Der Hallig-Flieder, der im Sommer die Salzwiesen mit seinen Blüten violett färbt, ist welk und grau. Aber der Blick auf die weite grüne Ebene der Hallig wirkt beruhigend. In der Ferne grasen die Rinder. Kaum Zäune stören das Bild. Man sieht dem Land an, dass es allen gehört.

Frühstück bei den Kolks. Sabine und Jürgen verbindet ein stilles Einverständnis, das an der einen oder anderen Krise gewachsen ist. Sie sind Hallig-Quereinsteiger, beide. Vor 13 Jahren übernahm Jürgen Kolk von seinem Onkel den Hof, den er schon aus Kindertagen kannte, und beendete ein angefangenes, gar nicht so schlecht laufendes Leben in der Stadt. Sabine und die zwei Kinder kamen mit. Was das bedeutete für die Familie, plötzlich nicht mehr in Kiel oder Berlin zu leben, sondern auf einem entfernten Eiland im Meer, Tür an Tür mit ganz anders gestrickten Menschen, wäre eine eigene Geschichte. Jedenfalls haben sie es dann irgendwie geschafft. Mittlerweile sind die Kinder aus dem Haus. Sabine und Jürgen Kolk bleiben. Sie tun ihre Arbeit. Sie können davon leben, und sie wissen, was sie haben an dieser Natur um sie herum. "Das Wasser glitzert jeden Tag anders. Der Wind pfeift jeden Tag anders", sagt Sabine Kolk, "das lässt niemanden unberührt."

"Das ist hier nicht Bullerbü, wo immer eitel Sonnenschein ist", sagt Volker Mommsen. 30 Jahre war er Bürgermeister von Gröde, dann übernahm Jürgen Kolk. (Foto: Thomas Hahn)

Dass die Kolks als Zugereiste nicht bei jedem eingesessenen Hallig-Menschen gut ankommen, ist klar. Sabine Kolk hat Kunstgeschichte studiert und war später Ergotherapeutin. Jürgen Kolk ist ursprünglich Historiker und arbeitete auf dem Festland als IT-Dienstleister. Er hat einen Doktortitel, auf den er sich nichts einbildet. Seine Promotionsarbeit über das Leben des visionären Widerstandsforschers Walter Hammer hat er nebenbei auf Gröde geschrieben. Die Kolks neigen nicht zur Selbstdarstellung. Sie übernehmen Verantwortung. Deshalb wurde Jürgen Kolk Bürgermeister, als Volker Mommsen nicht mehr wollte. Von Kolk stammt auch die GBR-Idee für die Allmende. Er trägt es mit Fassung, dass sie gerade nicht umzusetzen ist.

"Nicht-Konfliktfreiheit" nennt er den Umstand, der ihn manchmal müde macht - ähnlich wie Volker Mommsen. Und wie dieser stellt er sich mit Überzeugung hinter die Allmende. Vier Bauern legen jeden Tag aufs Neue ihre persönlichen Interessen zusammen, um die Aufgaben zu bewältigen - das gefällt ihm. Jeder behält immer auch das Vieh des anderen im Blick, keiner reibt sich auf in eitlem Zank um höhere Erträge. Es steckt so viel kluge Einsicht in diesem System, so viel Nachhaltigkeit und gewachsener Fachverstand, dass man in der alten Allmende sogar ein Zukunftsmodell sehen könnte für eine Landwirtschaft mit selbstbewussten Bauern, die ohne staatliche Bevormundung die Felder genau so bewirtschaften, wie es für Natur und Geldbeutel am besten ist.

Ein Zukunftsmodell für eine Landwirtschaft mit selbstbewussten Bauern?

"Spannender Gedanke", sagt Jürgen Kolk. Oder doch nur eine Utopie in einer Branche, die Tierhaltung und Lebensmittelproduktion zu einer streng profitorientierten Industrie hat wachsen lassen? "Die ideale Formel gibt es nicht", hat Elinor Ostrom zu Lebzeiten gesagt, "manchmal braucht es nationale Anleitung, manchmal globale, manchmal eine Mischung. Und manchmal braucht es gar keine."

Es hat gut geklappt, das kranke Rind in der Herde zu finden und es auf den Anhänger zu locken. Das erzählt Jürgen Kolk später, als er zurück ist von der Weide, auf dem Weg zum Anleger. Zuschauer waren nicht erwünscht, weil ein Fremder die Kuh in dieser Stresssituation noch mehr gestresst hätte. Da waren sich die Allmende-Bauern wieder einig. Wie es wohl mit dem neuen wird? Der vierte im Bunde hat seinen Hof verkauft, "aus persönlichen Gründen", wie Volker Mommsen tags zuvor etwas geheimnisvoll gesagt hat. Der Nachfolger ist schon gefunden. Er wird sich anpassen müssen an die Gepflogenheiten auf Gröde. Sturheit ist Stillstand, das muss jeder Allmende-Bauer verstehen und einen Weg finden, um mit den anderen zu leben.

"Es ist mehr als Nachbarschaft und weniger als Freundschaft", sagt Jürgen Kolk. Eine Einheit aus Egos. Kein Kinderspiel.

© SZ vom 13.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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