Wer in den Tagen vor Weihnachten einen Supermarkt betritt, den beschleicht angesichts der Menschenmassen schnell der Eindruck: Alle kaufen alles auf den letzten Drücker. Dabei beginnt die traditionell umsatzstärkste Zeit im Jahr schon viel früher, sagt Stefan Hertel vom Handelsverband Deutschland (HDE). Schon seit Anfang November wird gekauft, dass man sich fragt, wer das eigentlich alles essen soll: vorgebratene Enten, tiefgekühlte Gänseschlegel, Lebkuchen, Stollen oder Glühwein. "Die Leute kaufen die Artikel schon weit vor Weihnachten", berichtet Hertel. Auch wenn sie das oft gar nicht geplant hatten. Denn selbst wer eigentlich nur schnell ein paar Kleinigkeiten fürs Abendessen besorgen will, erliegt immer mal wieder der Versuchung.
Das ist kein Zufall, sagt Armin Valet, Ernährungsexperte der Verbraucherzentrale Hamburg. Die Supermärkte setzten gezielt auf Verführung. Und die Konsumenten fallen wehrlos darauf herein. In der Vorweihnachtszeit sitzt das Geld ohnehin bei vielen lockerer. Nur wer durchschaut, wie er unbemerkt zum Zugreifen angeregt wird, kann halbwegs widerstehen, warnt Valet. "Es wird natürlich auch in der Vorweihnachtszeit versucht, den Umsatz zu optimieren", erklärt Hertel. Dabei hilft ihnen, dass Studien zufolge zwei Drittel aller Einkäufe spontan ablaufen.
Das ausgeklügelte System der Einflussnahme beginnt schon mit den Einkaufswagen. Früher waren sie klein, heute sind sie riesengroß. "Alles Absicht. Die Leute sollen das Gefühl kriegen, da geht noch mehr rein, da fehlt noch was", erklärt Heidrun Schubert, Ernährungsexpertin der Verbraucherzentrale Bayern. Und die Kinder kriegen ihren eigenen Mini-Einkaufswagen, den sie oft genug vollladen mit Süßem. Wie praktisch, dass Gummibärchen, Schokolade oder Lakritz meist ganz unten in den Regalen zu finden sind, in Reichweite der Kleinen.
Dass Kürbis, Obst und Gemüse in Supermärkten meist gleich im Eingangsbereich liegen, hat auch einen guten Grund. Die Anordnung soll signalisieren: Bleib stehen, greif zu, hier kriegst du Frische wie auf dem Wochenmarkt. Gelblicht oder Grüntöne lassen Obst und Gemüse noch dazu möglichst lecker aussehen. Das steigert erfahrungsgemäß die Kaufbereitschaft. Als Unterstützung läuft noch dezente Hintergrundmusik, am besten im Takt mit dem Herzschlag - das entspannt.
Gleich hinter dem Eingang warten in den Discountern die inzwischen meist riesigen Backstationen. Wer reinkommt, soll schnuppern, sich wohlfühlen - und gleich mal zugreifen. "Manchmal riecht es nach frischen Semmeln und Kuchen, obwohl der Brotstand gar keinen Ofen laufen hat", sagt Schubert. Dann kommt der wunderbare Brotgeruch eben aus dem Beduftungsautomaten. Studien hätten gezeigt, dass sich die Trickserei auszahlt, sagt Valet. Kunden, die sich wohlfühlen, legen bis zu 20 Prozent mehr Waren in ihren Einkaufswagen.
Ob Supermarkt oder Discounter: Überall ist das Regal-Labyrinth nach einem ausgeklügelten System gestaltet. Die Gänge sind meist lang, eng und lenken häufig gegen den Uhrzeigersinn. "Wer links rum läuft, hat die rechte Hand frei zum Greifen", weiß Valet. In den Regalen links stehen in der Regel die Waren des täglichen Bedarfs wie Kaffee, Tee, Mehl, Nudeln. Rechts die Artikel, die man sich nicht immer leistet, die aber für Umsatz sorgen. Und: Die Kühlregale mit Produkten des täglichen Bedarfs sind immer am hinteren Ende des Geschäfts platziert.
Wer nur schnell Frischmilch kaufen will, muss so durch den halben Laden laufen - und dabei an viel Ware und Sonderangeboten im Ständer vorbei. Da locken Berge vorweihnachtlicher Aktionswaren wie Dominosteine, Halloween-Süßigkeiten, Heidelbeerwein. Daneben türmen sich Dekorationsartikel fürs Weihnachtsfest, Skiunterwäsche, Kerzen, Eiskratzer fürs Auto. Alle Grabbeltische und Ständer suggerieren: Hier gibt's was Besonderes. Das bremst selbst eilige Kunden aus - gut für den Umsatz. Je länger und enger der Weg zu häufig gekauften Waren wie Wurst, Eiern oder Joghurt, desto mehr Anreize hat der Einkäufer, spontan stehen zu bleiben und zuzugreifen. Salz, Zucker und Reis stehen dann wieder ganz woanders, meist weit entfernt von der Milch in der Kühlung, also muss man wieder zurück.
Wohin die Blicke der Kundschaft beim Einkauf besonders oft wandern, ist den Marketingexperten bestens bekannt. Und von Wissenschaftlern wie denen an der Uni Duisburg-Essen oft genug untersucht. Was auf Augenhöhe steht, wird zuerst entdeckt - und gern auch gekauft. "Solche Regalplätze sind von Herstellern hart umkämpft und werden gezielt angemietet", erzählt Schubert. Weil die Verkaufsstrategen selbst kleinste menschliche Schwächen in bare Münze verwandeln wollen, steht Teures genau dort. No-Name-Waren und Konkurrenzprodukte sind ganz unten oder ganz oben im Regal zu finden. Mit System: Die Bück- und Streckware ist zwar billiger, aber unbequemer zu erreichen. Menschen sind häufig träge.
Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Weder die Anordnung der Marmeladengläser mit ansteigenden Preisen von links nach rechts. Noch die Platzierung der Wasch- und Putzmittel. Letztere werden meist gezielt gesucht. Sie sind oft mitten im Laden. Auch an der Fleischtheke lauern Einkaufsfallen. Dort ist gern Rotlicht im Einsatz. Das verjüngt und hübscht auf, sagt Valet. Mit dem richtigen Licht und durch den Einsatz von Spiegeln sehen nicht nur Obst, Gemüse und Käse appetitlich aus.
Auf den letzten Metern zur Kasse fallen dann die meisten ungeplanten Kaufentscheidungen. Dort liegt nicht nur die "Quengelware" für die Kinder aus. Dort sind auch Zigaretten und Süßigkeiten für Erwachsene in Greifhöhe, die sogenannte Impulsware. Discounter wie Aldi oder Lidl fahren häufig eine etwas andere Strategie als Ketten wie Edeka oder Tengelmann, was die Warenanordnung angeht. Trotzdem tappe die Kundschaft überall in ähnliche Käuferfallen, ist Valet überzeugt. Es locken eben überall Versuchungen. "Wenn der Kunde hungrig ist, ist es vorbei mit seinen guten Vorsätzen", warnt Schubert.
Die Fachfrau hat einen simplen Tipp zum Gegensteuern parat: Wer wenig kaufen will, sollte niemals mit knurrendem Magen einkaufen gehen und sich vorher eine Einkaufsliste schreiben.