Pro und Contra:Zweifelhafte Bilanz

Lesezeit: 3 min

Während Arbeitsministerin Andrea Nahles den Mindestlohn als Erfolg verkaufen will, zeigen Verbände und Gewerkschaften die Schattenseiten der Errungenschaft auf.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Für Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist es eine Erfolgsmeldung: "Mit dem heutigen Tag ist der Mindestlohn einen weiteren Schritt mehr alltäglich und selbstverständlich geworden." Das sagte die Politikerin, als sie den Bericht der Mindestlohnkommission entgegennahm. 34 Cent mehr sind es nun geworden, der Mindestlohn steigt von 8,50 auf 8,84 Euro. Doch wie hat sich die gesetzliche Lohnuntergrenze bislang überhaupt ausgewirkt?

Die Kommission, in der je drei Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeber sowie der ehemalige RWE-Arbeitsdirektor Jan Zilius als unabhängiger Vorsitzender über die Anpassung des Mindestlohns entscheiden dürfen, wagt hier noch keine klare Antwort: Derzeit ließen sich "kaum Aussagen über den kausalen Wirkungszusammenhang" zwischen der Einführung des Mindestlohns und den Folgen für Beschäftigung und den Wettbewerb machen, heißt es in dem Beschluss des Gremiums. Deutlicher sind die Stellungnahmen der Verbände, die die Kommission in einem extra Bericht gesammelt hat. Diese zeigen: Der Mindestlohn hat auch Schattenseiten.

Die Zahl der Gewinner ist noch unklar. Das Bundesarbeitsministerium spricht von bis zu vier Millionen Menschen, die von der Lohnuntergrenze profitieren. Das Statistische Bundesamt legte am Mittwoch mit einer neuen Zahl nach: Danach wurden vier Monate nach Einführung der Untergrenze Anfang 2015 etwa 1,9 Millionen Stellen mit 8,50 Euro brutto vergütet. Immerhin eine Millionen erhielten weniger als den Mindestlohn, das dürften vor allem Arbeitnehmer sein, für die allgemein gültige Tarifverträge gelten, in denen die 8,50 Euro noch unterschritten werden dürfen. Ein nicht bezifferbarer Teil entfalle aber auch auf Beschäftigte, "die trotz Anrecht den Mindestlohn im April 2015 nicht erhielten", teilten die Statistiker mit.

Über die Zahl der möglichen Verlierer wird schon länger gestritten, wenn auch der befürchtete große Jobkahlschlag ausgeblieben ist. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beziffert in seiner Stellungnahme das Minus wegen des Mindestlohnes auf 40 000 bis 60 000 Stellen. In zwei von drei Fällen sei dies "auf nicht erfolgte Einstellungen zurückzuführen". Deutlich größer ist der Rückgang bei den Minijobs, die laut Gesetz ebenfalls mit 8,50 Euro pro Stunde zu vergüten sind. Allein der Taxi- und Mietwagenverband spricht von 30 000 weggefallenen Minijobs in der Branche. "Wir gehen davon aus, dass mindestens 80 Prozent der Aushilfen auf Minijob-Basis nicht mehr beschäftigt werden", heißt es in dem Schreiben an die Kommission. Der Verband räumt aber ein, dass in 80 Prozent der mehr als 800 Taxitarifgebiete die Preise erhöht wurden. Deshalb sei der Kostenanstieg durch den Mindestlohn "in einer Vielzahl von Fällen" ausgeglichen worden.

Da Praktika halb Lern-, halb Arbeitsphase sind, könnte man den Mindestlohn halbieren

Probleme meldet auch der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD), der mehr als 180 Unternehmen in der Sozialwirtschaft mit 400 000 Beschäftigten vertritt: Dieser weist auf Wohngemeinschaften hin, in denen Erzieher oder Betreuer 24 Stunden am Tag zum Beispiel mit von ihren Eltern vernachlässigten Kindern zusammenleben. Diese müssten nun 365 Tage und 24 Stunden am Tag mindestens 8,50 Euro erhalten. Die bislang bezahlten Vergütungen von 3000 bis 3500 Euro im Monat brutto stiegen dadurch "um 100 bis 120 Prozent". Da solche Gehälter die Kostenträger nicht bezahlten, würde diese nun teilweise vorschlagen, "die betreffende Kräfte zu entlassen und auf freiberuflicher Basis wieder deren Dienste in Anspruch zu nehmen".

Der Verband kritisiert außerdem, dass durch die engen Vorgaben des Mindestlohngesetzes "viele Praktika nicht mehr angeboten werden". Das sehen andere Organisationen wie der Stifterverband genauso: "Die Mehrheit der Studierenden erfährt Nachteile durch den Mindestlohn, der in einer Verknappung des Angebots und in einer Verkürzung der Praktikumsdauer begründet liegt", schreibt der Verband. Die Bemühungen, während eines Studiums Berufserfahrungen zu sammeln, würden besonders in "wirtschaftsfernen Studienfächern" konterkariert. Der Stifterverband schlägt deshalb komplett neue Regeln vor, die nicht mehr von der Dauer oder der Art des Praktikums abhängen: Da Praktika halb Lern- und halb Arbeitsphasen seien, sollte für sie der halbe Mindestlohn gelten - vom ersten Tag an. "Dies würde die Arbeitsleistung von Praktikanten honorieren, einen Beitrag zur Studienfinanzierung und zur Mobilität der Studierenden leisten, eine große Anzahl qualitativ hochwertiger Praktikumsstellen zu moderaten Kosten sicherstellen und den Trend zu Kurzpraktika stoppen."

© SZ vom 30.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: