Pflegebedürftige Angehörige:Freier Tag für Mama

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Arbeiten und für einen pflegebedürftigen Angehörigen da sein, lässt sich nur schwer vereinbaren, wenn der Arbeitgeber nicht hilft - nun denken die ersten Firmen um.

Sibylle Haas

Durch die offene Balkontür dringt das Zwitschern der Vögel in das Zimmer. Im Radio dudelt seichte Musik. Elisabeth Niessen hat sich hingelegt und hört zu. Sie richtet sich hoch, als die Tür aufgeht und begrüßt vom Bett aus freundlich die fremden Gäste. Die Tochter soll ihr den blauen Morgenrock bringen, den guten, den sie nur bei besonderen Anlässen trägt.

Einen pflegebedürftigen Angehörigen zu versorgen: Viele Firmen wollen davon nichts wissen. (Foto: Foto: AP)

Heute ist so ein besonderer Tag, schließlich gibt Elisabeth Niessen zum ersten Mal ein Interview. Die 74-Jährige, die die meiste Zeit im Rollstuhl in dem knapp 30 Quadratmeter großen Zimmer sitzt und Musik hört, lebt seit sechs Jahren in einem Pflegeheim der Diakonie in Düsseldorf. Sie hat Pflegestufe 2. ,,Ich brauche Pflege rund um die Uhr'', sagt sie. Die Frau leidet an einer Augenkrankheit und ist mittlerweile fast blind.

Vor mehr als zehn Jahren fing das an, es kam schleichend. Als sie vor sechs Jahren in ihrer Wohnung stolperte und sich bei dem Sturz zwei Lendenwirbel brach, blieb keine andere Wahl. Seit dem Unfall ist sie auf den Rollstuhl angewiesen und kann nur noch wenige Schritte alleine gehen. Ein Umzug ins Pflegeheim war unabwendbar.

,,Ich kann das meiner Tochter doch nicht zumuten'', sagt die gelernte Erzieherin resolut. Tochter Karin Adams streichelt der Mutter über das weiße Haar. Man spürt, dass der 52-Jährigen dieser Schritt nicht leicht gefallen ist. Zu Hause hätte sie die Mutter aber nicht pflegen können. ,,Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen'', sagt die alleinstehende Frau.

Den Heimplatz verdankt Adams ihrem Arbeitgeber Henkel - oder genauer: Regina Neumann. Die 45-Jährige ist eine lebensfrohe und quirlige Person, die so schnell nichts umhaut. Bevor die Diplompädagogin in den Sozialdienst bei Henkel kam, arbeitete sie in der Bewährungshilfe Wuppertal, beim Caritasverband Neuss und als Sozialarbeiterin im Krankenhaus. ,,Da ist einem nichts Menschliches mehr fremd'', sagt sie.

Beim Waschmittelkonzern Henkel arbeitet Neumann nun seit 15 Jahren, jetzt ist sie für alle 6000 Mitarbeiter am Stammsitz in Düsseldorf die Ansprechpartnerin für die Versorgung von Angehörigen.

Henkel gehört zu den wenigen Unternehmen in Deutschland, die ihren Mitarbeitern bei der Pflege von Familienmitgliedern helfen. Aber das könnte sich in Zukunft ändern.

Werksfeuerwehr ist bereit

Mehr als 440 Beschäftigte nutzen jährlich den Sozialdienst von Henkel. Bei den vier Mitarbeitern lassen sie sich zum Beispiel bei Ehescheidungen helfen oder bei der Suche nach einer Tagesmutter für ihr Kind. Allein 80 Menschen kommen jährlich zu Regina Neumann, weil sie in der Pflege ihrer Angehörigen nicht mehr weiterwissen - Tendenz steigend. ,,Den demographischen Wandel spüre ich auch in meinem Büro'', sagt sie.

Es gibt immer mehr alte Menschen. Deshalb hat sie auch einen Arbeitskreis mit ins Leben gerufen, der sich mit dieser Entwicklung beschäftigt. Da geht es zum Beispiel darum, wie Mitarbeiter auf ein längeres Arbeitsleben vorbereitet werden können, etwa durch Fitness- und Gesundheitsprogramme der Firma.

Regina Neumann hat Karin Adams bei der Suche nach einem Pflegeheim für die Mutter unterstützt und eine Liste mit freien Plätzen zusammengestellt. Für Adams ist es ein Glücksfall, dass sie ein Heim gefunden hat, das nur wenige Minuten von ihrer eigenen Wohnung entfernt ist. So kann sie ihre Mutter oft besuchen, ohne großen Aufwand.

Regina Neumann freut sich über solche Glücksfälle. An anderen Tagen wird in ihrem Büro viel geweint - der Tod der zu pflegenden Angehörigen kommt unausweichlich. ,,Wenn ich einkaufen gehe, bringe ich immer einige Packungen mit lustigen Papiertaschentüchern mit'', sagt sie und zieht drei Päckchen mit aufgedruckten Comicfiguren aus der Schublade.

Pflegeheime zu vermitteln ist eine von vielen Dienstleistungen, die Neumann für die Henkel-Mitarbeiter erbringt. Sie organisiert auch ambulante Pflegekräfte für zu Hause, berät über betreutes Wohnen, sorgt für den Kontakt zu Seniorennetzwerken oder Selbsthilfegruppen und kümmert sich um das Wohnungsprojekt für Henkel-Pensionäre.

Seit 1995 bietet der Konzern für ältere Mitarbeiter Wohnungen in einer firmeneigenen Anlage an. Die Wohnungen sind barrierefrei und mit einem Sicherheitsknopf ausgestattet, der eine direkte Verbindung zur Werksfeuerwehr herstellt.

Nur sieben Prozent der deutschen Firmen haben entsprechende innerbetriebliche Angebote. Das zeigt eine Untersuchung von ,,Beruf und Familie'', einer Initiative der gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Doch die Zahl der pflege- und hilfsbedürftigen Menschen in den Familien wird in den kommenden Jahren massiv zunehmen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen im Jahr 2020 auf etwa 2,9 Millionen.

Firmen wollen davon nichts wissen

Derzeit sind es gut zwei Millionen Menschen. Immer mehr Beschäftigte müssen deshalb Berufstätigkeit und die Pflege und Betreuung von Angehörigen unter einen Hut bekommen. Schon heute sind etwa ein Viertel der Hauptpflegepersonen berufstätig. ,,Damit wird die demographische Entwicklung zu einem wichtigen Thema für die betriebliche Personalpolitik'', sagt Stefan Becker, Geschäftsführer von ,,Beruf und Familie''.

Viele Firmen wollen davon aber noch nichts wissen. Es gibt nur wenige konkrete Angebote. In einem Leitfaden für Arbeitgeber hat Becker deshalb einige Beispiele beschrieben. Der Autobauer Ford in Köln hat etwa 2003 eine Mitarbeitergruppe ,,Arbeiten und Pflegen'' ins Leben gerufen, die Informationsveranstaltungen zu dem Thema organisiert.

Auch einen Notfallplan für plötzliche Pflegefälle gibt es bei Ford. Das Daimler- Chrysler-Werk in Wörth ermöglicht Mitarbeitern unbezahlte Pausenzeiten. Die Pharmafirma Merz hat für Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen unkomplizierte Regeln für Arbeitspausen entwickelt. Die Firmen sind, ebenso wie Henkel, als besonders familienfreundlich von der Hertie-Stiftung ausgezeichnet worden.

Karin Adams ist schon mehr als 30 Jahren bei Henkel. Als ihre Mutter die schlimme Augenkrankheit bekam, fand der betriebliche Sozialdienst auch für sie eine individuelle Lösung: Sie brauchte einen freien Tag, um die Mutter in eine Selbsthilfegruppe für Blinde zu bringen - und bekam ihn. Seit zehn Jahren arbeitet Karin Adams nun nur noch an vier Tagen in der Woche. Den freien Tag hat sie behalten, auch wenn die Besuche in der Blindengruppe wegen der Behinderung der Mutter nicht mehr stattfinden können.

Frei macht sie jetzt am Freitag, um ihre Einkäufe und den Haushalt zu versorgen. So bleibt ihr am Wochenende mehr Zeit, um bei der Mutter zu sein. Dann geht sie mit ihr auch schon mal in den Garten hinunter und fährt sie spazieren. ,,Das gefällt mir dann'', sagt Elisabeth Niessen und dreht das Radio wieder auf, als die Besucher sich verabschieden.

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