Parlamentswahl in Schweden:Verzweifelt am Mythos Sozialstaat festhalten

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Selbst in Schweden privatisierte die Regierung Schulen und Krankenhäuser. Ministerpräsident Reinfeldt wird deshalb vermutlich abgewählt, die Sozialdemokraten wollen gegensteuern. Kann das funktionieren?

Von Silke Bigalke, Stockholm

Die Frage klingt nach Abschied: Was hat sich in den vergangenen acht Jahren in Schweden am meisten verändert, möchte ein Journalist von Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt wissen. Acht Jahre - so lange ist Reinfeldt im Amt. Kommenden Sonntag wählen die Schweden ein neues Parlament, die Umfragen sprechen gegen eine weitere Amtszeit für Reinfeldt.

Der spricht in seiner Antwort von einer Wahl, die er und seine Eltern nicht gehabt haben, als er jung war: die Wahl, welchen Kindergarten, welche Schule er besucht, die Wahl, zu welchem Arzt man geht und später, in welches Pflegeheim. Heute haben die Schweden diese Wahl, sie verleihe ein Gefühl von "Macht über das eigene Leben", von einer "verbesserten Staatsbürgerschaft".

Lang hat der Staat für alles gesorgt

Es ist zwar nicht Reinfeldt gewesen, der diese Wahlfreiheit eingeführt hat. Aber er hat sich stark dafür eingesetzt, dass mehr private Anbieter von Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen auf den Markt kommen. Kritiker behaupten gar, seine Politik habe nur aus zwei Dingen bestanden: aus Steuersenkungen und Privatisierungen.

Es ist eine Politik, die die Schweden nun vermutlich abwählen. Viele hätten sich immer noch nicht an die privaten Anbieter gewöhnt, sagt Paula Blomqvist, Politologin an der Universität Uppsala. Die ersten privaten Schulen, Krankenhäuser und Pflegeheime entstanden in Schweden in den 1990ern - und genauso lang werde das Thema kontrovers diskutiert.

Lang hat der Staat für alles gesorgt und die Schweden haben sich daran gewöhnt, zu nehmen, was er ihnen bietet. In den vergangenen Jahren haben dann auch noch Skandale das Misstrauen gegenüber anderen Anbietern verstärkt: 2013 ging das Bildungsunternehmen JB Education pleite - 11 000 Schüler standen plötzlich vor einer ungewissen Zukunft. 2011 sorgte einer der größten Pflegeanbieter, Carema, für Aufregung. In der Presse war von Unterernährung der Pflegebedürftigen, falscher Behandlung, Wundliegegeschwüren und Kostendruck zu lesen.

Nun herrscht Wahlkampf, und die Opposition hat das Thema weit oben auf die Agenda gesetzt. "Profit hinterherzujagen, ist nicht gut für das Wohlfahrtssystem", sagt Reinfeldts Herausforderer Stefan Löfven von den Sozialdemokraten, die die Wahlumfragen anführen. Er möchte die Privaten stärker kontrollieren, neue Qualitätsstandards einführen.

Zum Beispiel sollen freie Schulen nicht mehr sparen können, indem sie Personal reduzieren. Sie sollen offenlegen, wofür sie das Geld ausgeben, das sie vom Staat für jeden Schüler erhalten. Die Linke geht viel weiter: Sie fordert, Profite im sozialen Sektor ganz zu verbieten.

Schulen sind ein besonders empfindliches Thema, das Land verarbeitet immer noch den letzten Pisa-Schock. Kein Land ist beim Bildungstest tiefer gefallen als Schweden. Die Leistung sinke seit Jahren, und zwar durchgehend - in öffentlichen und privaten Schulen. Deswegen versprechen alle Parteien, den größten Teil ihres Budgets in die Schulen zu stecken, sollten sie die Wahl gewinnen.

Umstritten ist aber, welche Schuld die privaten Schulen an der Bildungskrise tragen. Kritiker sagen, man könne nicht guten Unterricht geben und gleichzeitig Profit machen - zumal die freien Anbieter pro Schüler denselben Betrag von der Kommune erhalten wie die öffentlichen. Einen Beleg dafür, dass in privaten Schulen schlechter unterrichtet wird als in öffentlichen, gibt es bislang nicht.

Dennoch fordert selbst Reinfeldt nun mehr Kontrolle. Er erinnert an die guten alten Zeiten, als alles "ganz klein, ganz schön und sympathisch" anfing, mit Eltern, die in kleinen Orten Schulen übernahmen, denen sonst die Schließung drohte. Doch dann seien Unternehmen auf den Markt gekommen, die durch ihre Größe Kostenvorteile hatten, Profite abschöpfen konnten, so der Ministerpräsident.

Wer eine Schule leite, der müsse nun mal Kapital ziehen

"Wir sagen daher auch: Wir müssen genauer darauf schauen, welche Art langfristige Trägerschaft wir hier wollen. Eine Schule zu besitzen, ist beispielsweise nicht die beste Idee für Beteiligungsunternehmen, die ja per Definition eher kurzfristiger denken." Eine Kehrtwende? Beinahe jeder fünfte Schüler in Schweden besucht eine freie Schule, Friskola, wie sie dort heißen. "Etwa 70 Prozent der freien Schulen gehören Kapitalgesellschaften. Wenn man ihnen verbietet, Profit zu machen, würden viele von ihnen schließen", warnt Claes Nyberg, Leiter des Verbands der freien Schulen. Bereits jede Einschränkung würde den privaten Trägern große Probleme bereiten. Wer eine Schule leite, der müsse nun mal Kapital anziehen. Die Umsatzrendite der freien Schule läge ohnehin lediglich bei drei Prozent im Schnitt. Es ist ein Durchschnittswert, den die großen Ketten mit mehreren Hundert Schulen wohl überschreiten dürften.

Noch etwas anderes macht Nyberg Sorgen: Die Sozialdemokraten wollen den Kommunen ein Vetorecht einräumen, mit dem sie eine private Schule künftig verhindern können. "60 Prozent der sozialdemokratisch geführten Gemeinden würden eine freie Schule dann niemals zulassen, selbst wenn sie alle Qualitätstests besteht", fürchtet Nyberg.

Die Gemeinden haben 2012 insgesamt 616 Milliarden schwedische Kronen (67 Milliarden Euro) in Schulen, Krankenhäuser und Pflegeheime gesteckt. 15 Prozent davon erhielten private Unternehmen. Doch die fahren ihre Investitionen zurück, gaben in diesem Jahr nur etwa 6,5 Millionen Euro aus. Vor vier Jahren waren es noch etwa 816 Millionen Euro, so die Zahlen des Verbands Schwedischer Kommunen und Regionen.

Die Unsicherheit macht den Unternehmen zu schaffen. "Uns fehlt in Schweden eine langfristige Regulierung, das ist nicht gut", sagt etwa ein Sprecher des schwedischen Gesundheitskonzerns Capio, der auch Kliniken in Deutschland betreibt. "Wenn die Politiker eine Gesetzgebung erlassen, die es uns unmöglich macht im Markt zu bleiben, müssen wir darauf reagieren."

© SZ vom 12.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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