Odessa:Schöner Schein am Schwarzen Meer

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Odessa lockt Investoren und Touristen, der Mythos der ukrainischen Hafenstadt ist ungebrochen - doch mit dem Alltag der Bewohner dort hat er nichts zu tun.

Steffen Uhlmann

Rebjata, Kinder, dawaij, schnell, schnell, schnell - Galina jagt mit ihrem rostgrünen Nissan, der irgendwann einmal ein richtiges Auto gewesen ist, über die Schlaglochpisten von Odessa.

Der Hafen Odessas ist einer der größten des Landes. Er verliert aber an Bedeutung, weil viel zu flache Fahrrinnen die Zufahrt größerer Schiffe verhindern. (Foto: Foto: pak)

Ungeduldig drängelt sich die Frau durch den chaotischen Verkehr, in dem träge Ampelanlagen nur symbolischen Ordnungswert besitzen. Dabei telefoniert Galina pausenlos, denn eines ihrer beiden Handys klingelt immer. Sie muss endlich diesen verdammten Schlüssel besorgen.

Ein russisches Ehepaar, das für zwei Wochen ein Apartment in der Stadt am Schwarzen Meer gemietet hat, wartet seit Stunden vor dem Urlaubsquartier. Doch der Bund bleibt verschwunden und den Ersatzschlüssel hat nur der Wohnungsbesitzer, der draußen in Arkadia wohnt, dem Villenviertel am Schwarzen Meer.

Hartes Geschäft

Galina betreibt seit einiger Zeit eine kleine Agentur, die Wohnungen und Apartments vermietet. Die Quartiere gehören reichen Odessitern, die seit der Freigabe des Immobilienmarktes in der Ukraine massenweise Häuser und Wohnungen in den besten Distrikten der Stadt aufgekauft haben und sie nach der Renovierung für bis zu 100 Dollar am Tag an Touristen vermieten.

Das Vermietungsgeschäft ist hart, viele Agenturen tummeln sich bereits am Markt. Jetzt in der Sommerzeit aber gehen die Geschäfte gut für Galina. Mehr als drei Dutzend solcher Urlaubsquartiere hat sie in ihrem Bestand.

Vornehmlich Russen, aber zunehmend auch Amerikaner, Italiener oder Deutsche mieten die Unterkünfte an. Der Mythos Odessa, das Schwarze Meer, das für Ausländer immer noch so billige Leben in der ukrainischen Hafenstadt ziehen sie allesamt an.

"Was heißt schon billig", sagt Galina genervt, die vor mehr als 30 Jahren mit ihren Eltern von einem kleinen Dorf am Baikalsee nach Odessa gekommen ist. Die heute 35-Jährige gehört damit zu den russischstämmigen Odessitern, die in der ukrainischen Millionenstadt die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe bilden.

Billig, sagt sie, sei in Odessa nur noch das nackte Leben. "Draußen in Arkadia bin ich mal in den Kindergarten und zur Schule gegangen. Jetzt leben am Meer fast nur noch die Superreichen, 2000 bis 3000 Dollar kostet inzwischen der Quadratmeter dort."

Prächtige Bürgerhäuser

Den Mythos vom leichten, ungezwungenen Leben, von dem einst der russisch-jüdische Schriftsteller Isaak Babel schwärmte, hat sich Odessa dennoch bewahrt. Nicht russisch, nicht ukrainisch, sondern kosmopolitisch will sich die Stadt geben.

In dem von prächtigen Bürgerhäusern, alten Kulturstätten und modernen Einkaufspalästen geprägten Zentrum gelingt ihr das beinahe auch. Fernab der Plattenbauten aus Sowjetzeiten stöckeln, unaufhörlich in Handys quasselnd, schick gekleidete Frauen über das Kopfsteinpflaster der Flaniermeile Deribasowskaja.

Und ihre männlichen Pendants lassen in den engen Straßen keine Gelegenheit aus, mit Motorgeheul auf ihre neureichen Statussymbole der Marken BMW, Mercedes oder Toyota hinzuweisen.

In Odessa herrsche Aufbruchstimmung, erklärt die Dame aus der Stadtverwaltung das eitle Gewimmel.

"Schauen Sie sich die Gerüste an den Häusern an, überall wird gebaut", sagt sie und zeigt hinüber zum supermodernen Einkaufszentrum "Europa", das all jene Lifestyle-Shops beherbergt, auf die nun auch die zehn Prozent betuchten Odessiter nicht mehr verzichten wollen.

Der Handel sei aufgeblüht, internationale Investoren hätten endlich die alte Handels- und Hafenstadt entdeckt. Morgen fliege sie wieder mit dem Bürgermeister nach Istanbul. "Wir machen viel mit der Türkei", sagt sie.

"Uns trennt ja nur noch das Schwarze Meer." Odessa glaubt, sich abkoppeln zu können von dem negativen Wirtschaftstrend, der das Land nach der "orangenen Revolution" erfasst hat.

Das Wachstum war nach dem Wechsel im Präsidentenamt vom pro-russischen Politiker Viktor Janukowitsch zum westlich orientierten Präsidenten Viktor Juschtschenko dramatisch eingebrochen. Statt zwölf Prozent im Jahr 2004 stieg die Wirtschaftsleistung im Folgejahr nur noch um drei Prozent.

Das politische Gerangel um Macht und Einfluss, der Gasstreit mit den Russen lösten eine Talfahrt aus, die bis heute anhält. Nun kehrt Janukowitsch als Ministerpräsident nach Kiew zurück, doch für 2006 rechnen die Experten weiter mit Stagnation und Instabilität.

Steigende Preise

Die wirtschaftliche Zukunft der russischen Hochburg Odessa bleibt ungewiss. Der Hafen etwa, immer noch einer der größten des Landes, verliert an Bedeutung, weil die viel zu flachen Fahrrinnen die Zufahrt größerer Schiffe verhindern.

Die Regierung in Kiew will nun mit Milliardenaufwand den Konkurrenz-Hafen Donuslaw zur größten Transportdrehscheibe auf der Halbinsel Krim ausbauen.

"Ach Kiew, Kiew ist weit weg", sagt die Russin Elena und blickt auf die legendäre Eisenstein-Treppe, die hinunter zum Hafen führt. "Seit der orangenen Revolution ist für uns alles noch viel schlimmer geworden. Das Einzige, was wächst, sind die Preise für Gas, Heizung, Öl und Lebensmittel."

Sie schüttelt energisch den Kopf: "Juschtschenko ist nur gut für die Amerikaner, für uns Russen aber ist er eine Katastrophe." Elena beschreibt den Graben, der das Land in den ukrainischen Westen und den russischen Osten teilt.

Die orangene Revolution habe nur einen Zwist zutage gefördert, der zwischen Russen und Ukrainern seit Jahrzehnten schwele: Die Russen fühlen sich benachteiligt, zugleich aber auch überlegen.

"Russland war einmal stark und groß, dann aber sind der Georgier Stalin und die Ukrainer Chruschtschow und Breschnew an die Macht gekommen. Sie haben unser Land ruiniert", sagt Elena und erzählt die Geschichte von dem Russen und dem Ukrainer, die beide auf einem großen Berg von Äpfeln sitzen: "Der Russe nimmt so viel, wie er braucht, und verteilt den Rest. Der Ukrainer aber beißt jeden Apfel an und schmeißt die Reste weg, wenn er satt ist."

Elena lebt mit ihrem halbwüchsigen Sohn allein in einer kleiner Plattenbauwohnung. Von ihrem Mann hat sie sich schon vor Jahren getrennt. "Er war ein Trunkenbold und meine Ehe zum Schluss eine Hölle."

"Zahlen oder verzichten"

Das sei hier das Schicksal vieler Frauen. Die grazile 37-Jährige arbeitet als Designerin in einer kleinen Bekleidungsfirma. Die Geschäfte gehen schlecht, weil via Türkei billige Massentextilien aus Südostasien auch den ukrainischen Markt überschwemmen. Rund 300 Dollar verdiene sie monatlich. "Damit lebe ich besser als 70 Prozent der Leute hier, aber was heißt das schon."

Elena hat Angst um ihren Job. Immer neue Vorschriften und Steuern würden die Firma in den Ruin treiben. Wie viele Odessiter möchte sie durch den Kauf einer neuen Wohnung ihr Lebensniveau verbessern.

Doch sie kommt diesem Ziel kein Stück näher, weil die Banken Zinsen von mehr als 30 Prozent nehmen und die schwarzarbeitenden Handwerker bei der nötigen Renovierung des Quartiers mittlerweile kräftig zulangen. "Legal läuft hier nichts", sagt sie.

"Du musst zahlen oder verzichten." Elena will nicht mehr verzichten. Vergangenes Jahr hat sie eine Freundin in der Schweiz besucht. "Ein schönes Land, ein schönes Leben", sinniert sie. "Bloß, wie komme ich dorthin?"

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