Münchner Seminare:Keine amerikanischen Verhältnisse!

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Der Londoner Arbeitsforscher Daniel Hamermesh untersucht, wie Menschen ihre Zeit verbringen. Er findet: In Europa läuft vieles besser als in den USA.

Von Katharina Kutsche, München

Haben wir mehr Zeit oder mehr Geld als unsere Großeltern? Die zweite Hälfte der Frage ist leicht zu beantworten, sagt Daniel Hamermesh: Ja, die Einkommen seien im Vergleich zu vorherigen Generationen gestiegen. Auch die Lebenserwartung, um 15 Prozent. Mit der Zeit sei das etwas komplizierter. Zwar wurden seit 1900 viele Technologien erfunden, die etwa die Hausarbeit erleichtern. Allerdings hätten diese Technologien uns im Schnitt gerade mal drei Stunden mehr Zeit verschafft. "Wir alle wollen mehr Geld", sagt Hamermesh. "Aber tatsächlich ist es vor allem die Zeit, die zu knapp ist."

Hamermesh ist Professor an der Universität London. In seinem langen akademischen Leben forschte der Wirtschaftswissenschaftler unter anderem an den Elite-Hochschulen Princeton und Harvard, studierte in Chicago und Yale. Der 75-jährige Amerikaner ist Experte für Arbeitsmärkte, Arbeitsnachfrage und die Nutzung von Zeit. Auf seinem Forschungsgebiet gilt er als Vordenker, sein bekanntestes Buch ist das Werk "Labor Demand" von 1993. Bei den Münchner Seminaren, einer Veranstaltungsreihe von ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung, spricht er über die für ihn wertvollste Ressource: Zeit.

Der Wissenschaftler hat dafür Daten aus mehreren Ländern zusammen getragen. Sie wurden erhoben, indem man Menschen ein Tagebuch führen ließ, allein in Deutschland waren es 10 000. Die Teilnehmer sollten in einem Zeitraum von 24 Stunden jeweils notieren, wann sie etwas anderes anfangen: 22:30 Uhr bis 6.00 Uhr schlafen, 6.00 Uhr bis 6.05 Uhr duschen, 6.05 bis 6.20 Uhr frühstücken beispielsweise.

Die einzelnen Angaben wies Hamermesh vier Kategorien zu. Erstens: bezahlte Arbeit. Dazu zähle nicht nur der Job, sondern auch die Zeit, die man mit Dingen wie Unterricht, Hausaufgaben und Bewerbungen verbringe. Zweitens: Hausarbeit: Kinderbetreuung, Saubermachen, Kochen - Dinge, die man gegen Bezahlung auch von anderen erledigen lassen könne. Drittens, nötige persönliche Aktivitäten, also Dinge, die einem niemand abnehmen könne. Darunter fallen etwa schlafen, essen, Körperpflege, Sex. Viertens: Freizeit: Fernsehen, Sport; eben all das, was einem Spaß mache, wozu man nicht verpflichtet sei, was aber für das eigene Wohlbefinden getan werden müsse.

Hamermesh fügte die Daten aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland zusammen. In allen Ländern ist der Anteil an nötigen Aktivitäten am größten und der Anteil an bezahlter Arbeit am geringsten. Trotz dieser Verteilung sei bezahlte Arbeit das, was am meisten Stress verursache.

Großzügigere Ladenöffnungszeiten? Keine gute Idee, sagt der Ökonom

Im Vergleich zeigte sich etwa, dass Männer zwar mehr im Beruf arbeiten als Frauen, Frauen aber den Stress durch andere Faktoren stärker empfinden. So seien es mehrheitlich die Frauen, die im Blick behalten, was im Haushalt und darüber hinaus getan werden muss. Und in allen Ländern schauen Frauen weniger fern als Männer, die besonders in den USA Spitzenreiter im Vor-der-Glotze-hängen sind. "Die Couch Potato ist ein geschlechtsspezifisches amerikanisches Gemüse", sagt Hamermesh.

Der Ökonom untersuchte aber nicht nur Unterschiede zwischen Ländern und Geschlechtern. Er hinterfragte auch, ob Einwanderer ihre Zeit anders verbringen als Einheimische - gerade in seinem Geburtsland USA eine hoch aktuelle Frage, die Hamermesh als Texaner noch zusätzlich bewegt. Seine Grundannahme: "Der Migrant von heute ist der Bürger von morgen." Und zeitlich lässt sich das nachweisen. Die Migranten arbeiten mehr als ihre gleichaltrigen im jeweiligen Land geborenen Einwohner, schauen weniger fern, vermutlich wegen sprachlicher Probleme. Doch die zweite Generation passt sich an: Ihre Zeitverteilung ist wie die der "Einheimischen", im Vergleich zu den Eltern also weniger Arbeit, mehr Spaß.

Generell gelte, dass die Bürger in den USA mehr arbeiten müssen als Bewohner anderer reicher Länder. Sie haben weniger bezahlten Urlaub, oft nur zwei Wochen, und auch weniger bezahlte Feiertage. Dazu komme, dass 27 Prozent der Arbeiter zu ungewöhnlichen Zeiten arbeiten, nachts oder am Wochenende. In Europa seien das nur 13 Prozent. Betroffen davon seien hauptsächlich Migranten, Minderheiten und weniger gebildete Menschen. Europa tue also gut daran, sich nicht zu sehr den USA anzupassen, etwa wenn es um großzügigere Ladenöffnungszeiten geht. Dieser Trend helfe Kunden ein bisschen, tue anderen aber sehr weh, sagt Hamermesh.

Um das zu ändern, sei politischer Wille erforderlich. Denn wirtschaftlich betrachtet, hätten sowohl Arbeiter als auch Unternehmen immer Sorge, hinter der Konkurrenz zurückzufallen, wenn sie mehr Freiheiten nutzen. Eine Entscheidung der Regierung sei also nötig, dieses Problem für alle zu lösen und - so lautet Hamermeshs Vorschlag - allgemein einen bezahlten Urlaub von vier Wochen einzuführen. "Mit dieser Regierung wird das aber nicht passieren". Da ist sich der Ökonom mit Blick auf US-Präsident Donald Trump ziemlich sicher.

© SZ vom 23.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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