Merkel und die Wirtschaft:Politik der nüchternen Worte

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Angela Merkel beruft sich auf Ludwig Erhard, aber als Wirtschaftspolitikerin gibt die Bundeskanzlerin bisher vor allem Rätsel auf.

Marc Beise

Es war einer dieser Abende, an denen große Visionen gefragt sind. Ein deutscher Konzern hatte zu einem Werkstattgespräch geladen. Vor dem Kamin eines großen Hotels saß nun Angela Merkel, es war noch weit vor der Bundestagswahl 2005, inmitten des gesamten Konzernvorstandes und einiger handverlesener Journalisten, und sollte Auskunft geben über ihr wirtschaftspolitisches Leitbild.

Feines Essen und guter Rotwein, offene Diskussion und zu später Stunde Schnaps und Zigarren - ein Abend eigentlich wie geschaffen für dröhnende Mannsbilder wie Gerhard Schröder, den Genossen der Bosse.

Stattdessen nun eine dezent-charmante CDU-Vorsitzende, die die Herren in den schwarzen Anzügen im Nu um den Finger wickelte. Jene lobten hinterher die präzise Argumentation der Spitzenpolitikerin, ihre Detailkenntnisse, die Ernsthaftigkeit ihrer Argumentation, gepaart übrigens mit einem unerwarteten Witz.

Mit den Augen der Physikerin

Als überzeugte Marktwirtschaftlerin präsentierte sich Angela Merkel damals, und als eine, die als Neuzugang aus der ehemaligen DDR noch nicht in den in Jahrzehnten gewachsenen Parteischützengräben der alten Bundesrepublik festsitzt.

Kein Kumpeltyp, sondern eine Pragmatikerin der Macht. Kein "Lasst mal, das bring' ich für Euch schon in Ordnung" an die Adresse der Manager, sondern ein "Sie haben Ihren Job, und ich habe meinen, und wenn jeder gut arbeitet, kommen wir gemeinsam voran".

Das war die Zeit, als sie beim Leipziger Parteitag der CDU ein Wirtschaftsprogramm durchgepaukt hatte, das der eher besinnlichen Schwesterpartei CSU den Angstschweiß auf die Stirn trieb und von dem sich führende Unionisten heute hinter vorgehaltener Hand mit den Worten "neoliberale Verirrung" distanzieren.

Das ganze Arsenal angeblich wirtschaftsliberaler Grausamkeiten war dort aufgefahren worden, von einer großen Steuerreform à la Paul Kirchhof über die Kopfpauschale im Gesundheitswesen bis zu einer grundlegenden Liberalisierung auf dem Arbeitsmarkt.

Eine wirtschaftliche "Ordnung zur Freiheit" beschwor sie damals und wollte Ordnungspolitik als Befreiungspolitik verstanden wissen - Befreiung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus den Fängen des Sozialstaates, von der Bevormundung durch das Arbeitsrecht, von bürokratischen Verrenkungen. Angela Merkel, damals.

Dann kam die vorgezogene Bundestagswahl, eingeleitet durch einen chaotischen Wahlkampf und abgeschlossen mit einem miserablen Ergebnis für CDU/CSU.

Heute ist Angela Merkel Bundeskanzlerin einer großen Koalition zweier gleich großer und selbstbewusster Volksparteien und beinahe 24 Stunden am Tag unter Beobachtung. Dennoch (oder deswegen?) wachsen die Zweifel, wohin die junge Regierungschefin wirtschaftspolitisch eigentlich will.

Zu Beginn des Jahres 2006 ist eine andere Angela Merkel zu lesen und zu hören als noch vor Jahresfrist. Eine, die die SPD links überholt, die Kombilohn und Mindestlohn auf die Tagesordnung setzt, die nichts bringen, aber den Staat endgültig ruinieren würden.

"Wir haben das doch alles längst durchdacht", sagt ein führender CDU-Mann. "Sie weiß doch, dass das nicht hilft, sondern nur schadet."

Warum dann spielt sie dieses Spiel? Neue Einsichten? Taktik? Oder Orientierungslosigkeit?

Selbst enge Weggefährten sind ratlos. Wohin Merkel wolle? "Das würde ich auch gerne wissen."

Klar, dass die vorbereiteten Sätze stimmig komponiert sind. Natürlich will sie in der Tradition des Wirtschaftswunder-Kanzlers Ludwig Erhard gesehen werden, dessen Bestseller "Wohlstand für alle" sie nach 1989 als Neuankömmling in der bundesrepublikanischen Marktwirtschaft und junge Ministerin im Kabinett Kohl studiert hat.

Die soziale Marktwirtschaft will sie stärken, Unternehmen helfen, Jobs zu schaffen, die sozialen Sicherungssysteme zukunftstauglich machen - aber geht es nicht auch ein bisschen konkreter?

"Unglaublich präzise" sei diese Frau, schwärmen Gesprächspartner, tief in den Details zuhause, mit einem klaren Blick für das, was geht.

Ganz offensichtlich habe sie ein viel tieferes Verständnis für die inneren Prozesse als ihr Vorgänger Schröder und erst recht als der Generalist Helmut Kohl. Ungeheuer fleißig sei sie, sitze des Nachts noch im Kanzleramt und durchdenke Themen, Professoren nehmen sie ernst.

"Freiheit wagen" will sie, das hat sie in die im Abstimmungsprozess mit der SPD weichgespülten Regierungserklärung vom 30. November 2005 hineingeschmuggelt.

Das sei, sagt sie jetzt, "in der SPD durchaus nicht bejubelt worden." Mag sein, aber heißt das, dass sich hinter diesem Satz eine Vision verbirgt, eine Kampfansage an den alles überwölbenden Staat, der doch vielen Sozialdemokraten unvermeidlich zu sein scheint?

Klare Positionen sind gefordert

Womöglich, vermutet mancher, verbirgt sich hinter der Unbestimmtheit dieser Tage die Taktik einer Politikerin, die sich in die besonderen Umstände einer großen Koalition fügen will.

Warum die Genossen mit Themen reizen, bei denen diese sich ohnehin nicht bewegen werden? Taktik dieses Kalibers freilich hätte seine Risiken. Denn Politik kann nicht beliebig Hebel umlegen. Stimmungen und Strömungen sind schwer zu beeinflussen. Was jetzt falsch läuft, wird so schnell nicht mehr richtig.

Vielleicht ist das Merkel ganz egal. Womöglich auch tickt sie längst wie ihre Vorgänger, nämlich rein machtpolitisch. Als Physikerin hat Merkel die Mechanik der Parteien- und Mediendemokratie wahrscheinlich schneller und besser verstanden als der Jurist Schröder und der Historiker Kohl.

Allein mit Taktik aber kann man in politischen Zirkeln lange überleben, nicht aber in der Wirklichkeit.

Schon gar nicht in der ökonomischen Wirklichkeit der Globalisierung. "Wirtschaft ist unser Schicksal", das bekannte Wort von Walther Rathenau aus dem Jahr 1921 gilt auch für Merkel. Je bedrängter eine Volkswirtschaft, eine Gesellschaft ist, desto wichtiger sind auch klare Positionen.

Verhängnisvoll ist die Ziellosigkeit, die mangelnde Nachhaltigkeit des eigenen politischen Tuns. Daran ist Helmut Kohl gescheitert, erst nach 16 Jahren zwar, aber ohne Umstände wie den Fall der Mauer wäre das wohl früher geschehen. Schröder musste bereits nach sieben Jahren aufgeben. Die Halbwertzeit einer Politik des Augenblicks nimmt offensichtlich ab. Angela Merkel hat allen Grund, gewarnt zu sein.

© SZ vom 18.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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