Menschen mit Behinderung:Der richtige Grad

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Noch nie gab es so viele Deutsche, die schwerbehindert sind. Um einen Ausweis zu bekommen, müssen sie viele bürokratische Hürden nehmen.

Von Lara Gohr, Köln

Alexandra S.' Leben war komplett durchgetaktet. Die OP-Schwester arbeitete teilweise bis spät in die Nacht, zog ihre drei Kinder allein groß. Dann kam die Diagnose: Zysten im Rückenmark. Eigentlich war die damals 37-Jährige zuversichtlich, dass sie kurze Zeit nach der Operation wieder arbeiten würde. Sie hatte schließlich selbst mehr als 20 Jahre lang in der Chirurgie gearbeitet. Doch es kam anders. "Als ich nach der OP erwachte, war mein linkes Bein taub", erzählt sie: "Heute wagt sich da kein Chirurg mehr dran." Beim Gehen zieht sie das taube Bein hinterher, was schon nach 200 Metern zu anstrengend wird. "Manchmal muss ich mittags auf den Rollstuhl umsteigen," sagt die heute 42-Jährige. Auto fahren darf sie nicht. "Lebensmittel für die Familie zu kaufen und zu tragen, ist schwierig", erzählt sie. "Putzen und Treppen steigen genauso." Trotz alledem bekam sie zunächst keinen Schwerbehindertenausweis vom Landratsamt.

Das Dokument soll das Leben eines behinderten Menschen erleichtern. Wer einen solchen Ausweis hat, dem stehen zum Beispiel bei Arbeitgeber und Finanzamt besondere Rechte zu: Bei einer 5-Tage Woche etwa fünf zusätzliche Urlaubstage pro Jahr. Behinderte Menschen genießen einen stärkeren Kündigungsschutz, bevor ein Arbeitgeber einen behinderten Menschen entlassen kann, muss er das Integrationsamt um Erlaubnis bitten. Spezielle Merkzeichen auf dem Ausweis garantieren individuelle Rechte. Zum Beispiel sagt der Buchstabe "G" aus, dass Besitzer des Ausweises erheblich im Straßenverkehr beeinträchtigt sind. Sie dürfen dann günstiger Bus oder Bahn fahren oder müssen nur die Hälfte der Kraftfahrzeugsteuer zahlen.

Außerdem gibt es Steuerfreibeträge auf die Einkommensteuer. Wie hoch diese ausfallen, kommt darauf an, wie stark die Behinderung ist. Menschen mit den Merkzeichen "Bl" für blind und "H" für hilflos ist der höchste Steuerfreibetrag garantiert, das sind 3700 Euro jährlich.

Laut Statistischem Bundesamt hatten noch nie mehr Deutsche einen Schwerbehindertenausweis als im Jahr 2017: 7,8 Millionen Menschen, fast jeder Zehnte. Trotzdem ist es für viele alles andere als einfach, einen Ausweis zu bekommen. Alexandra S. hätte ihn nach der OP gut gebrauchen können: "Ich verlor meinen Job und meine Selbstständigkeit", erzählt sie. Selbst nach einem Verschlimmerungsantrag gab es zunächst keinen Ausweis. Ein solcher Antrag kann gestellt werden, wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert.

(Foto: Hans Blossey/Mauritius)

Potenziell gibt es für viele Krankheiten einen Schwerbehindertenausweis. Chancen haben zum Beispiel Rheuma- und Diabetespatienten. Die meisten Behinderungen entstehen im Alter. 13 Prozent der Einschränkungen waren im Jahr 2017 geistige oder psychische, darunter auch Drogensucht oder schwere Depressionen.

Auch für temporäre Krankheiten wie Krebs kann es einen Ausweis geben. Mit welchen Einschränkungen welcher Anspruch einhergeht, ist in den sogenannten Versorgungsmedizinischen Grundsätzen aufgelistet, sie sind online zu finden unter Gesetze-im-internet.de, Stichwort VersMedV.

Die Antragsteller müssen nachweisen, wie stark sie im Alltag beeinträchtigt sind

Um die Vorteile zu nutzen, müssen Menschen ihre Behinderung offiziell feststellen lassen. Und das geht nur, wenn die Krankheit länger als sechs Monate dauert. Dann akzeptiert das Versorgungsamt der jeweiligen Kommune oder die zuständige Landesbehörde den Antrag. Mitarbeiter der Behörde bewerten die Behinderung. Dafür ist der sogenannte Grad der Behinderung entscheidend. Er bemisst, wie stark ein Mensch im Alltag beeinträchtigt ist. Auf einer Skala von 20 bis 100 wird er auf Zehnergrade gerundet, also beispielsweise auf 20, 30 oder 40.

Mit einem Behinderungsgrad von 20 bekam Alexandra S. nach ihrem ersten Antrag den niedrigsten Wert zugesprochen. "Im Alltag hatte ich davon gar nichts", sagt sie. Wer den Ausweis und seine Vorteile haben möchte, muss das Amt davon überzeugen, dass ihm mindestens ein Behinderungsgrad von 50 zusteht. Von dieser Schwelle an ist jemand offiziell schwerbehindert.

Manchmal ist die Sache klar: Wer einen Unterschenkel verloren hat, bekommt einen Grad von 50 anerkannt. Viele Krankheiten aber, zum Beispiel Diabetes, behindern Menschen im Alltag unterschiedlich stark. Deshalb gibt es für diese keinen klaren Wert. Dazu kommt, dass mehrere Krankheiten zusammen einen Behinderungsgrad von 50 ergeben können. So entsteht Spielraum für Streit.

Viele sind beim bürokratischen Antragsprozedere auf die Hilfe von Angehörigen, Sozialstationen oder Anwälten angewiesen. Auch Deutschlands größter Sozialverband VdK hilft seinen Mitgliedern. "Die Sozialgesetzgebung ist komplex, es gibt immer wieder Änderungen, die man als Laie nur schwer durchblickt", sagt Rainer Strauch, Leiter der Rechtsabteilung beim VdK Bayern. "Viele Menschen werden Mitglied bei uns, weil sie unsicher im Umgang mit Behörden, Fristen und Formulierungen sind" sagt er. Die Mitarbeiter der Ämter sähen den Antragssteller nicht, sie hätten nur seine Akte. Rainer Strauch bilanziert: "Wer die Papierarbeit nicht penibel macht, hat schon verloren."

Erst nach drei Jahren erkannte das Amt die Gehbehinderung von Alexandra S. vollständig an. Sie musste vor das Sozialgericht ziehen und ihre Ansprüche mithilfe eines Anwalts durchsetzen. (Foto: oh)

Manfred Eichmeier ist Sachgebietsleiter der Bayerischen Landesbehörde Familie und Soziales in Oberfranken. 60 Mitarbeiter haben dort im vergangenen Jahr 37 000 Anträge bearbeitet. "Die Beweislast liegt beim Antragssteller, auch wenn die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln muss", sagt Eichmeier. "Wenn aus dem Antrag und den eingereichten ärztlichen Unterlagen nicht ersichtlich wird, wie sehr die Krankheit im Alltag einschränkt, erkennen wir im Zweifel einen niedrigeren Behinderungsgrad an." Diese konkreten Auswirkungen müsse der behandelnde Arzt ebenfalls in dem vom Amt angeforderten Befundbericht beschreiben. "Einzig die Diagnose 'Diabetes' reicht nicht", sagt Eichmeier. "Außerdem sollte man grundsätzlich alle ärztlichen Gutachten oder Entlassungsberichte mitschicken, die man bereits hat oder besorgen kann."

Jennifer Brandt hat sich an diesen Rat gehalten. "Ich habe mir die Mühe gemacht und im Antrag wirklich jede Erkrankung einzeln dargelegt", sagt die 30-Jährige, die an Endometriose leidet, einer Krankheit, bei der sich Wucherungen von Gewebe der Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter ansiedeln. Daneben machte sie ein chronisches Schmerzsyndrom und Arthrose der Füße und eines Knies geltend. Sie beschrieb, wie ihre Krankheiten sie einschränken und sich gegenseitig beeinflussen. "Zusätzlich habe ich gravierende Nebenwirkungen von Medikamenten beschrieben und OP- und Reha-Berichte angehängt."

Besonders wichtig: Brandt informierte ihre Ärzte über den Antrag und besprach ihre Probleme ausführlich mit ihnen. "Regelmäßige Infusionen machen mich extrem müde, manchmal verschlafe ich 24 Stunden", sagt die junge Mutter, die sich in dieser Zeit weder um ihre Tochter kümmern kann noch am gesellschaftlichen Leben teilnimmt. "Ich habe meiner Schmerztherapeutin das Ausmaß dieser Nebenwirkung noch einmal erklärt." Brandts Hausarzt wusste von ihren Erschöpfungssymptomen und ihren chronischen Schmerzen. "Ich erzählte ihm aber noch, dass es für mich nicht mehr möglich ist, Abendveranstaltungen wahrzunehmen, und ich durch den verschobenen Schlaf am nächsten Tag mehr Schmerzen habe." Das alles schrieben die Ärzte in ihre Stellungnahmen. Brandt erhielt sechs Monate später einen Bescheid mit der Entscheidung: Ihr wurde offiziell ein Behinderungsgrad von 50 und damit ein Ausweis zuerkannt.

Wer mit der Entscheidung der Behörde unzufrieden ist, hat einem Monat lang Zeit, um Widerspruch einzulegen. Die Behörde prüft dann erneut. Bleibt sie bei ihrer Entscheidung, können Antragssteller vor dem Sozialgericht klagen. Von etwa 34 000 Anträgen, die der VdK Bayern 2017 begleitet hat, legte rund ein Drittel der Betroffenen Widerspruch ein, 2200 zogen vor das Sozialgericht. "Oft wird ein Fall erst nach einem Widerspruch differenziert genug betrachtet", so Experte Strauch. "Wenn etwa mehrere Gesundheitsstörungen gleichzeitig bewertet werden, geht es um viele Schwankungswerte. Wenn wir im Nachhinein detailliert begründen, warum die vorherige Einschätzung zu niedrig war, wird oft ein höherer Grad der Behinderung anerkannt."

Auch Alexandra S. zog vor das Sozialgericht, mithilfe eines Anwalts. Als VdK-Mitglied habe sie das 70 Euro gekostet. Schließlich erkannte das Amt ihre Gehbehinderung vollständig an, nach drei Jahren. Heute bezahlt sie für die Straßenbahn nicht mehr 60 Euro monatlich, sondern nur 80 Euro im Jahr.

© SZ vom 29.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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