Medien:Wahrheit tut weh

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Der spröde Charme des Geldes: Seit 160 Jahren kämpft "The Economist" für Freihandel.

Viola Schenz

(SZ vom 22.07.2003) — Gäbe es einen Wettbewerb um das am langweiligsten gestaltete Nachrichtenmagazin der Welt, der Economist hätte gute Chancen, ihn zu gewinnen. Bleiwüsten, die sich über mehrere Seiten hinziehen, nur hin und wieder von briefmarkengroßen Fotos unterbrochen und nüchternen Grafiken unterbrochen, schematisch aneinander gequetschte Textspalten, die kaum Luft zum Atmen kriegen.

So what? Die Macher des Economist scheren sich nicht um publizistische Moden. Die Form muss dem Inhalt folgen, nicht umgekehrt - so lautete hier schon immer die Devise.

Hin- und wieder einen Lidstrich

Das spröde Blatt feiert in diesem Sommer Geburtstag, seit 160 Jahren gibt es den Economist jetzt, und nur fünfmal in dieser langen Zeit wurde das Erscheinungsbild geändert: Das erste Mal nach 90 Jahren, das letzte Mal vor 24 Monaten, als tatsächlich Farbfotos eingeführt wurden - für Economist-Standards ein revolutionärer Akt.

Glaubt man den Art-Direktoren dieser Welt, die für ihre Entwürfe der schönen neuen Zeitschriftenwelt große Preise bekommen, müsste das Londoner Traditionsblatt längst aus den Kiosken verschwunden sein.

Doch was machen die Kunden? Sie greifen zu. Küren den Economist in Umfragen zu einem der angesehensten Blättern der Welt. Lassen die Auflage in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 70 Prozent steigen, auf nunmehr wöchentlich rund 881.000 Exemplare. Gedruckt wird auf drei Kontinenten, verkauft in 180 Ländern, wobei die Briten allein in Nordamerika mehr als 400.000 Stück verkaufen.

Zur Gruppe rund um den Economist, die insgesamt immerhin 20 Millionen Pfund Jahresgewinn macht, gehören auch Fachblätter wie CFO und Roll Call. Vor allem machen die profitablen Geschäfte dem 50-Prozent-Eigentümer Pearson Spaß, dessen Hauptblatt Financial Times mehr und mehr Anzeigen verlor.

Im Grunde schrullig

Wie viel besser ist dagegen das Schwesterblatt! "Der Economist bleibt stark, selbst unter harten Bedingungen", schreibt der Verlag im Geschäftsbericht. Während viele europäische Blätter mit dem Ende der New Economy und dem Beginn der Konjunkturflaute schrumpfen oder dicht machen, scheint der Economist stur weiter zu wachsen.

Ja, so ist er: verdammt stur, im Grunde genommen schrullig. Tut mit seinem Namen so, als ginge es nur um Wirtschaftsthemen, dabei sind auf jeweils rund 100 Seiten viele Geschichten aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zu finden.

Dieses Unikum sieht aus wie ein Magazin, nennt sich wegen seines knappen Redaktionsschlusses am Donnerstag Abend aber beharrlich "Wochenzeitung".

Sie teilt den Lesern nie mit, wer da eigentlich für sie schreibt, was im Zeitalter der Kommunikation eine ziemliche Absurdität ist. Kein Artikel trägt eine Namenszeile, es gibt noch nicht mal ein Impressum, das die Redakteure und Ressortleiter ausweisen würde, und selbst der Name des Chefredakteurs taucht nirgendwo auf (er heißt Bill Emmott, das sei an dieser Stelle verraten).

Barbara Beck, leitende Redakteurin beim Economist, begründet dieses Versteckspiel so: "Für uns ist die Qualität des Schreibens sehr wichtig. Jeder Artikel geht durch ein Dutzend Hände und ist am Ende tot redigiert. Da würde eh kein Autor seinen Text wiedererkennen."

"Queen or pawn"

Eines sollte man daher nicht sein, wenn man beim Economist arbeiten will: eitel. Stattdessen sollte man ein Händchen haben für scharfsinnige Analysen und gut recherchierte Hintergrundberichte sowie für diese Economist-eigene Art höflicher Respektlosigkeit, mit der die Redaktion so manchem Politiker, Unternehmensvorstand oder sonstigem Prominenten das Fürchten lehrt. (Nicht umsonst lautet hier das Motto "Truth hurts" - "Wahrheit tut weh".)

Und man sollte überaus witzige Karikaturen und Bildunterschriften fabrizieren können. Ironie ist eine Spezialität des Economist - genauso wie der hauseigene Stilkodex. "Wir haben eine dicke Bibel mit Regeln, die jedem, der sich nicht danach richtet, vor die Nase gehalten wird", verrät Beck.

Etwa: Benutze nie ein langes Wort, wenn es ein kurzes auch tut; lasse jedes überflüssige Wort aus; verwende keine ausgeleierten Metaphern; garniere das Ganze mit Humor.

Hier kann es auch passieren, dass passend zu einem Artikel eine Frau abgebildet wird, und die Bildzeile schlicht in der Terminologie des Schachspiels heißt: "Queen or pawn", Dame oder Bauer?

Auflage: 1

Dem Zeitungsgründer James Wilson, einem Hutmacher aus der schottischen Kleinstadt Hawick, war es im September 1843 nur um eine Sache gegangen: um die Corn Laws, die protektionistischen Getreidegesetze, die in England den Import billigeren Korns vom Festland verhinderten. Brotpreise und Hungersnot stiegen. Also veröffentlichte dieser Wilson ein Pamphlet, mit dem er andere Geschäftsleute von den Vorteilen des Freihandels überzeugen wollte.

So war The Economist geboren. Wilsons Devise "Wenn Kapitalismus und freier Markt funktionieren, funktioniert auch Demokratie" ist auch heute noch Kern der Redaktionsphilosophie. Selbst in Ländern, die nicht als Inbegriff für Freihandel und Demokratie gelten, wie Tadschikistan, Liberia oder Kuba, ist der alt-liberale Economist präsent - mit einer Auflage von je einem Stück. "Das Kuba-Exemplar gibt es nicht zu kaufen", erzählt Beck: "Wir hegen den Verdacht, dass die Ausgabe von Fidel Castro gelesen wird, und der will natürlich nicht, dass seine Untergebenen so etwas auch lesen."

Die Wärter auf der Gefängnisinsel Robben Island wollten eigentlich auch nicht, dass ihr gefangener Nelson Mandela so etwas zu lesen bekam. Trotzdem konnte der ANC-Führer den Economist zehn Jahre lang von seiner Zelle aus abonnieren - er gab vor, ihn für sein Wirtschaftsstudium zu brauchen.

Die Aufseher fielen auf den Trick rein. Zu spät merkten sie, dass sich die prominenten Apartheidgegner all die Jahre mit einem Nachrichtenmagazin über die politische Lage in der Welt und vor allem in Südafrika informiert hatten.

In Ausgabe Nummer 8330 schrieb der Chefredakteur (wie immer anonym), James Wilsons Thesen stimmten heute genauso wie damals, 1843. Aber selbst 160 Jahre später müsse man nach wie vor für sie einstehen. Insofern sei es schade, dass es den Economist immer noch gibt. Die Wahrheit tut eben weh.

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