Machtkampf um EU-Chemierecht:Brüssel will 30.000 Stoffe untersuchen

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Der Entwurf der EU-Kommission für ein neues Chemikalienrecht hat heftige Kritik ausgelöst. Die Industrie warnt vor dem Verlust von 1,4 Millionen Arbeitsplätzen allein in Deutschland.

Von Cornelia Bolesch und Alexander Hagelüken

(SZ vom 30.10.03) — Der Vorschlag der Kommission ist der Auftakt zu einem Machtkampf um das neue Chemierecht, der mehrere Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Die EU-Kommission spricht von einer notwendigen Untersuchung von zehntausenden Chemikalien, die ökonomische Vorteile im Gesundheitsbereich von bis zu 30 Milliarden Euro haben könne.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) befürchtet dagegen eine Überlastung der europäischen Chemieindustrie und der weiterverarbeitenden Unternehmen etwa im Autobau. Er spricht von einem "Testfall" für Europas Industriepolitik.

Zurückhaltende Reaktion

Die unmittelbare Reaktion der Bundesregierung auf den neuen Vorschlag fiel zurückhaltend aus. Regierungssprecher Bela Anda meinte, offenbar habe der vorliegende Entwurf einigen Bedenken Rechnung getragen, die Bundeskanzler Schröder zusammen mit dem britischen Premier Tony Blair und Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac vorgebracht hatte.

Der Staatssekretär im Umweltministerium, Rainer Baake (Grüne), hatte sich davor etwas weiter vorgewagt. Im Fernsehen sprach er von einem "großen Schritt nach vorn". Für die Bundesregierung stehe die Sicherheit der Chemikalien im Vordergrund. Allerdings dürfe es dabei nicht zu "unverhältnismäßigen Kosten" für die Industrie kommen.

Rätselhafte Kosten

Der Gesetzentwurf für ein neues Chemikalienrecht ist am Mittwoch nach über zweijähriger Vorbereitung, einer Internet Konsultation mit über sechstausend Reaktionen und permanenten Veränderungen von Umweltkommissarin Margot Wallström und Industriekommissar Erkki Liikanen präsentiert worden.

Er sieht vor, dass in den nächsten elf Jahren in Europa etwa 30 000 Chemikalien registriert und auf ihr Gefährdungspotential für Umwelt und Gesundheit untersucht werden sollen. Eine zentrale Chemie-Agentur soll die Arbeiten koordinieren. Die 30 000 Stoffe wurden bereits vor über zwanzig Jahren auf den Markt gebracht, bislang aber nicht ausreichend oder überhaupt nicht getestet.

Nur für Substanzen, die nach 1981 produziert wurden, gilt ein Regelwerk der Prüfung. Das betrifft aber nur etwa drei Prozent aller eingesetzten Chemikalien. Die EU-Umweltminister hatten bereits 1998 der Kommission den Auftrag für ein umfassendes neues Chemikalienrecht gegeben, das die inzwischen 40 Einzelvorschriften ablösen soll.

Harte Arbeit am Dossier

"Noch nie hat man in der Kommission so hart an einem Dossier gearbeitet", sagte Industriekommissar Liikanen. Er und Umweltkommissarin Wallström verteidigten den vorliegenden Entwurf als "ausgewogen". Liikanen betonte, vor allem nach den berechtigten Einsprüchen der Industrie seien die "Kosten um 80 Prozent" gegenüber früheren Plänen gesenkt worden, die die Kommission im Mai vorgelegt hatte.

Die Kommission rechnet jetzt damit, dass auf Chemieindustrie und Weiterverarbeiter in den nächsten elf Jahren Kosten von 5,2 Milliarden Euro zukommen werden. Die Industrie hält die Berechnungsbasis dieser Schätzungen für falsch. Liikanen stellt in Aussicht, dass "in einem Workshop" noch einmal über die Kosten gesprochen werde.

Zustimmung erforderlich

In Brüssel wird damit gerechnet, dass der Chemikalien-Entwurf im Europaparlament und im Ministerrat noch geändert wird. Beide Organe müssen der Chemie-Vorlage zustimmen. Ob es noch vor den Europawahlen im Juni 2004 zu einer ersten Lesung im Parlament kommen wird, ist zweifelhaft.

Die Staats-und Regierungschefs haben bereits eine wichtige Weiche für die Auseinandersetzung in den kommenden Monaten gestellt: Ihrem Auftrag zufolge soll nicht der Umweltrat, sondern der Wettbewerbsrat bei der neuen Chemikalien-Verordnung die Federführung übernehmen. Umweltkommissarin Wallström hat an die EU-Umweltminister appelliert, ebenfalls "ihre Rolle einzufordern".

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