Leben mit mehreren Jobs:"Wenn ich's nicht mache, macht es keiner"

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Christine Schöpfel hat verschiedenste Jobs, um sich über Wasser zu halten. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Immer mehr Menschen haben zwei oder mehr Stellen, fast drei Millionen "Multi-Jobber" gibt es in Deutschland. Christine Schöpfel aus Thüringen etwa arbeitet in Kaffeeküchen, mit dem Putzkübel und an der Nähmaschine. Einblicke in ein Leben zwischen Erschöpfung und Stolz.

Von Charlotte Theile, Neudietendorf

Es ist 21.45 Uhr und Christine Schöpfel ist für heute fertig mit der Arbeit. Sie schaut sich noch einmal um: Die Toiletten sind sauber, die Kaffeetassen in der Spülmaschine, die kleinen Zwiebelschalen liegen nicht mehr auf dem Teppich, sondern im Mülleimer. Die Papierkörbe sind leer - halt, hier fehlt noch eine Mülltüte. Christine Schöpfel läuft noch einmal schnell in die Küche, eine von den weißen Tüten, aufschütteln, in den Plastikeimer damit, fertig. Licht aus.

Sie schließt ab und läuft zu ihrem Auto, einem kleinen roten Kia. Zu Hause, das weiß sie, wartet eine unordentliche Wohnung, unerledigte Näharbeiten, ein Hund, ein Vogel und ein Mann, der sich beschweren wird, dass sie zu viel arbeitet. Sie weiß, dass er recht hat. Spätestens morgen früh, am Donnerstag, wenn sie um halb sechs aufsteht, um die Putz-Tour einer Kollegin beim Pflegedienst zu übernehmen. Vier Haushalte, das geht bis nachmittags. Dann noch Waschen und Bügeln bei einem Kunden, dem sie auf eigene Rechnung den Haushalt führt.

Abends fährt sie wieder hierher, in diese ganz normale Bürolandschaft. Motivierende Sprüche an den Wänden, Familienfotos neben den Bildschirmen, Pin-up-Girls im Pausenraum. Zwölf Schreibtische, sechs Toiletten, Küche, Flur, Treppenhaus. Zwei Mal die Woche erledigt sie nach diesem Putzdienst noch einen zweiten, in einem Logistikzentrum bei Erfurt.

Wie sie das alles schafft? "Eigentlich gar nicht mehr", sagt Christine Schöpfel und verbirgt ihr Gesicht hinter einer Hand. Fünf Jobs hat sie im Moment - denn zu den verschiedenen Putz-Jobs, zum Waschen-Wischen-Bügeln in einem fremden Haushalt kommt noch ein privater Nähbetrieb, Änderungsschneiderei in den eigenen vier Wänden. Dass Schöpfel 62 Jahre alt und inzwischen in Rente ist, zählt nicht: Die 40-Stunden-Woche ist bei ihr spätestens Donnerstagmittag voll - und am Wochenende wird genäht. "Für mich hat sich das ein bisschen blöd entwickelt", sagt sie und zuckt mit den Achseln. Noch vor gar nicht so langer Zeit hätte sie sich gewünscht, dass wenigstens ein paar Näharbeiten reinkommen.

Schöpfel, die in der DDR als leitende Postangestellte und Bürokraft in einer Betriebspraxis gutes Geld verdiente, war nach der Wende immer wieder arbeitslos, hielt sich mit Urlaubsvertretungen und Gelegenheitsjobs über Wasser. Eine Stelle als Buchhalterin gab sie auf, als sie Mitte der Neunzigerjahre zu ihrem Lebensgefährten ins Erfurter Umland zog. Das Schuhgeschäft, mit dem sie sich dort selbständig machte, ging Pleite. Einige Jahre später durfte sie in Rente gehen, doch für diese war kaum etwas zusammengekommen.

Heute ist sie eine von 7,5 Millionen Mini-Jobbern in Deutschland. Bis zu 450 Euro im Monat kann man in diesen Jobs dazuverdienen, so gut wie steuerfrei. Immer mehr Menschen - alleinerziehende Mütter, Studenten, Rentner - bessern so ihr Gehalt auf. Viele haben gleich mehrere Stellen, nicht wenige erledigen den Mini-Job neben einer Vollzeitstelle. Man nennt sie Multi-Jobber, und auch ihre Zahl wächst: etwa 2,7 Millionen sind es im Moment.

So viel Multi-Job wie bei Christine Schöpfel ist allerdings selten. Dabei ist sie ein Musterbeispiel für das, was sich die Erfinder der Mini-Jobs vor mehr als zehn Jahren gedacht haben: Schöpfel wird immer dann gefragt, wenn gerade Not am Mann ist. Für Auftragsspitzen und saisonale Höhepunkte seien Mini-Jobber ideal, befand man damals, als die neuen Arbeits- und Sozialgesetze gemacht wurden. Schnell eingestellt, ein paar Stunden die Woche, ein paar Euro auf die Hand. Wunderbar flexibel.

An einem nieseligen Vormittag im November sitzt Christine Schöpfel an der Nähmaschine und schaut aus dem Fenster. Für sechs Euro kann man bei ihr Hosen kürzen lassen, aufwendigere Arbeiten wie das Füttern einer Jacke kosten 20 Euro oder ein bisschen mehr. Das ist selbst in Thüringen, wo die Löhne so niedrig sind wie fast nirgendwo sonst in Deutschland, ziemlich günstig. Hinter ihr auf dem Sofa türmen sich Lederjacken, Skihosen, Mäntel. Sie hat Beschwerden bekommen, einige Kunden sind verärgert, dass es mit dem Ausbessern immer länger dauert. Das wurmt sie, die Nähkunden will sie auf keinen Fall vergraulen. "Das kann ich auch noch machen, wenn ich 80 bin."

Stolz auf das verdiente Geld

Doch im Moment kommt Schöpfel einfach nicht zum Nähen - sie hat zu viel zu tun mit Urlaubsvertretungen, mit Krankheitsausfällen. Wann immer jemand wegbleibt, springt sie ein. Das hat mit dem zu tun, was sie ihren "Sprachfehler" nennt, ihren "Gendefekt": "Ich kann nicht Nein sagen." Und deshalb ahnt sie schon, dass die nächste Zeit nicht besonders besinnlich werden wird: Zwischen den Jahren, und am besten auch ein bisschen davor und danach, wollen alle frei machen.

Trotzdem sagt Christine Schöpfel, die Arbeit mache ihr Spaß. "Sonst würd' ich es nicht machen." Sie ist stolz, Geld zu verdienen, stolz auf ihre Leistungsfähigkeit. "Das sitzt einfach so bei mir drin." Schöpfel hat zwei Kinder großgezogen, voll gearbeitet, immer schon. "Ich hatte ein großes Haus, einen Garten, jedes Wochenende Besuch, meistens Übernachtungsbesuch, und die wollten ja auch etwas essen. Ich hab genäht, ich hab gestrickt und Vollzeit gearbeitet. Heute ist mir das selbst ein Rätsel." So viel wie ihr Mann, der in einer Aluminium-Gießerei beschäftigt war, hat sie nie verdient. Noch heute, ihr Mann ist seit fast zwanzig Jahren tot, gestorben an den Graphit-Dämpfen in der Gießerei, ist die Witwenrente größer als ihre eigene.

Ihre jetzige Arbeit sei im Vergleich nicht besonders anstrengend, sagt Schöpfel, während sie in der Bürolandschaft Kaffeesahne und Zucker nachfüllt. Eigentlich nicht ihre Aufgabe, sagt sie, "aber ich mach's halt trotzdem. Ist schnell gemacht." Saubermachen, für 7,56 Euro die Stunde, Müllbeutel rausbringen, Armaturen blank wischen, das sei alles gar kein Problem und außerdem könne sie sich ja frei einteilen, wann sie es macht. "Solange es am nächsten Morgen sauber ist, ist alles in Ordnung."

Es ist ein paar Tage vor Weihnachten, und Schöpfel hat alle Feiertagsbrücken übernommen. Eine Kollegin aus dem Pflegedienst ist beim Putzen von einem Hund gebissen worden, das konnte keiner ahnen. Der Hund sei eigentlich lieb, sagt Schöpfel, die eingesprungen ist.

Und trotzdem. Während sie mit ihrem Wassereimer, exakt ein Tropfen Spülmittel darin, durch die Sanitäranlagen zieht, konzentriert Toiletten und Böden wischt, weiß sie, dass sie eigentlich nicht hierher gehört. "Mein Traumjob?", sagt Christine Schöpfel und wringt den Lappen aus, "mein Traumjob wäre im Büro, am Schreibtisch. Aber da ist mein Zug abgefahren." Ihre Mutter, sagt Schöpfel, würde sich "im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, dass ich heute putzen gehe." Ihre Mutter hat schließlich erlebt, wie die Tochter ein Postamt leitete, wie sie Ingenieurswissenschaften an der Uni Halle im Fernstudium absolvierte. Und jetzt putzen.

Andererseits, sagt Schöpfel, die inzwischen bei den Waschbecken angekommen ist, sei es ein Unding, wenn die Leute jammerten, sie hätten kein Geld, aber dann nicht putzen gehen würden. Da kennt sie einige. "Dann darf man auch nicht jammern." So sei sie eben nicht, sagt sie, und schaut prüfend in den sauber-glänzenden Spiegel. Eine blonde Frau mit Bubikopf, knallrotem Oberteil und einem viel zu großen, grauen Putzkittel schaut zurück. Dass sie inzwischen nur noch 1,53 Meter groß ist, drei Zentimeter kleiner als früher, an Arthrose und Stress-Diabetes leidet, sieht man ihr nicht an. Sie sieht jünger aus als 62 Jahre, trägt goldene Ohrringe und ein leichtes Make-up. Man ahnt trotzdem, dass die Frau im Spiegel lange nicht geschlafen hat und auch, dass sie nachts wach liegt und sich zu viele Gedanken macht.

Etwas weniger als 2000 Euro. So viel hat Christine Schöpfel jeden Monat zur Verfügung. Eine ziemlich hohe Summe, wie sie findet. Etwa die Hälfte davon ergeben die beiden Renten, ihre eigene und die Witwenrente, die andere Hälfte verdient sie dazu. Damit ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben "der Haupternährer". Ihr Lebensgefährte trägt nur sehr wenig Geld bei. Er ist gesundheitlich so eingeschränkt, dass er nicht voll arbeiten kann.

Das Geld, das sie verdient, ist fürs Alter gedacht, "wenn ich einmal nicht mehr so kann". Dafür, dass man auch mal ins Gasthaus gehen kann, Motorrad fahren, Urlaub machen. Zunächst aber soll ein neues Auto für ihren Mann her, sein alter BMW sei nicht mehr gut. Auch ihre Tochter hat in letzter Zeit Unterstützung gebraucht, sie musste den Job wechseln und wohnt seit Kurzem im gleichen Ort wie die Mutter. "Aber dafür arbeite ich ja auch, dass ich das machen kann", sagt Schöpfel.

Es gebe doch noch "viele, denen es schlechter geht"

Auf dem Rückweg, im Kia, spricht Christine Schöpfel über die Dinge, die sie gern hat. Klassische Musik. Die "Rolling Stones". Hirschbraten. Motorrad fahren im Sommer. Dicke Bücher im Winter. Über die Feiertage hat sie sich "Anna Karenina" ausgeliehen, den Wälzer von Tolstoi. Ihre Kinder, die beide in der Altenpflege arbeiten und auch oft nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht vor Arbeit. Ihren Lebensgefährten, den sie zwar der Witwenrente wegen nicht heiraten kann, mit dem sie aber vor Notar und Gesetz verbunden ist. "Wir haben uns gegenseitig abgesichert", sagt Schöpfel. Insgesamt, gebe es "viele, denen es schlechter geht." Im Hintergrund läuft MDR Thüringen, Schlager, Kitsch, Jingles.

Zwei Wochen später. Die Weihnachtstage sind mittlerweile vorbei, Christine Schöpfel vertritt noch immer Kranke und Urlauber. Der Wälzer von Tolstoi liegt unberührt in der Nähkammer. In ein paar Tagen beginnt ein neues Jahr, MDR Thüringen und alle anderen sprechen über gute Vorsätze. Schöpfel, die vor einigen Monaten noch sagte, sie würde ihre fünf Jobs auch machen, wenn sie im Lotto gewonnen hätte, sieht nun müder aus als je zuvor. Gibt es etwas, das sie sich wünscht? Ruhiger solle es werden, eben wieder ganz normal. Was sie darunter versteht? "Dass ich zum Beispiel die Wäsche von der Arbeit nicht mit nach Hause nehmen muss, sondern Zeit habe, Ordnung zu machen und zu warten, bis die Waschmaschine durchgelaufen ist." Sie schüttelt den Kopf, als ihr klar wird, wie weit sie sich inzwischen von der Normalität entfernt hat.

Kündigen, sagt Christine Schöpfel, das hat sie nicht geplant. "Ich sehe ja: Wenn ich's nicht mache, macht es keiner."

© SZ vom 04.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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