Leben mit Hartz IV:Geld ja, Job nein

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Seit zwei Wochen ist die Arbeitsmarkt-Reform in Kraft, und die erste Bilanz ist recht passabel - zumindest, was die Auszahlung angeht. Die Arbeit fehlt weiter.

Von D. Näger, U. Ritzer, S. Uhlmann und J. Viering

Martin M. ist empört. Wie ein Stier pflügt der untersetzte 56-Jährige durch die Wartezone auf der vierten Etage der Agentur für Arbeit Berlin Ost.

"Es läuft noch nicht richtig gut" mit Hartz IV. (Foto: Foto: ddp)

Der arbeitslose Außenhandelskaufmann ist nun schon das dritte Mal seit Neujahr im Jobcenter der Agentur, die für die beiden Ost-Berliner Stadtbezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf zuständig ist.

Beim ersten Mal war M. hier, weil er kein Arbeitslosengeld II erhalten hatte. Da konnten ihm die Mitarbeiter noch mit einem Barscheck aushelfen.

Beim zweiten Mal stellte man ihm ein paar Etagen weiter einen Ein-Euro-Job in Aussicht. Das hat den Langzeitarbeitslosen sogar ein bisschen gefreut. Jetzt aber soll er sich dafür ein drittes Mal anstellen. Die Unterlagen dafür seien noch nicht vollständig.

An der Anmeldezentrale ist wenig Betrieb. "Noch gestern", so eine der Helferinnen vor dem Tresen, hätten lange Schlangen die Flure des Zehngeschossers durchzogen. "Wir haben darum ohne Pause von früh bis abends durchgemacht", sagt sie und schüttelt den Kopf: "Da gab's noch mehr von seinem Kaliber."

Vergebliche Versuche, Arbeit zu finden

M. hört das nicht. Sein Gesicht ist hochrot, er fühlt sich gequält, gepiesackt, einfach schlecht behandelt von den Agenturmitarbeitern. Dabei bemühen die sich nicht nur, schnell seinen Fall zu erledigen, die Agentur hatte in den vergangenen Jahren auch mehrmals versucht, M. mit Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen wieder dauerhaft in Lohn und Brot zu bringen.

Vergebens, bis auf einige kurze Intermezzos hat der Ostberliner seit Mitte der neunziger Jahre nie eine feste Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen.

Ob in der Agentur in Berlin Ost oder anderswo in Deutschland - das ganz große Hartz-IV-Chaos, das im Herbst noch viele prophezeiten, ist ausgeblieben.

Und es stimmt auch, was am ersten Tag der großen Arbeitsmarktreform in allen Medien zu lesen stand und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement unermüdlich verkündete: Hartz IV funktioniert, die meisten Erwerbslosen bekommen ihr Geld.

Viele bleiben auf der Strecke

Aber bei einer solch großen Reform, die in Windeseile gestrickt und in Sturmgeschwindigkeit umgesetzt wird, bleibt es nicht aus, dass auch viele auf der Strecke bleiben. Es ist nicht schwierig, in diesen Tagen Fälle zu finden, in denen der Start alles andere als reibungslos verlief. Es zeigt sich aber auch schon jetzt, dass Hartz IV allein keine neuen Jobs bringt.

Mit rund 67.000 Arbeitssuchenden, einer Arbeitslosenquote von 18 Prozent und dem neuen Geschäftsstellenleiter Tobias Dreher ist die Agentur Berlin Ost Anfang Januar ins Hartz-Zeitalter aufgebrochen. Die erwarteten Protestaktionen blieben hier aus, ein paar lautstarke Auseinandersetzungen gab es. Sonst nichts, aber überall die gleichen Anfangsprobleme bei einzelnen Fällen.

Kein oder zu wenig Geld auf dem Konto, fehlende oder falsch ausgefüllte, noch gar nicht gestellte oder bereits wieder abgelehnte Anträge auf das Arbeitslosengeld II - das gehört in vielen Arbeitsagenturen zum Hartz-Alltag.

Mehrmals in der Hotline vertröstet

Ortswechsel, München: Roland G. dreht die Hülle mit den Unterlagen in seinen kräftigen Händen herum. Ganz obendrauf liegt der Bescheid. Eine Woche nach dem Start von Hartz IV sitzt er in einem Flur in der Arbeitsagentur München und wartet, dass er endlich mit einem Sachbearbeiter reden kann.

"Ich habe schon am 9. November meinen Bescheid bekommen, aber das Geld ist immer noch nicht da." Mehrmals rief er die Hotline an, mehrmals wurde er vertröstet. Er akzeptiere ja, sagt der Stahlbauschlosser, dass es eine Computerpanne geben kann. Aber jetzt wolle er sich doch mal persönlich erkundigen.

"Das ist eine bewusste Falschinformation"

Auch bei Alfred K. war es so: Der Industriekaufmann, der seit Februar 2003 arbeitslos ist, hatte seinen Antrag im Oktober vollständig abgegeben. Als er am 27.Dezember immer noch keinen Brief bekommen hatte, ging er ins Amt und bekam die Auskunft: Es sei alles in Ordnung, sein Geld sei unterwegs.

Auf die gleiche Weise wurde er von einem Mitarbeiter der Telefon-Hotline beruhigt, der ihm seine Leistungshöhe mitteilte. Dem war aber nicht so. Am 3. Januar war kein Geld da, Alfred K. ging ins Amt, man wollte ihn wieder nach Hause schicken. Doch er bestand auf einen Bescheid.

Als er endlich mit einem Sachbearbeiter sprechen konnte, stellte sich heraus, dass seine Akte einen roten Vermerk hatte, dass sein Geld noch nicht angewiesen war. "Das ist eine bewusste Falschinformation", ärgert sich Alfred K. nun.

Und solche Fälle, die auch nicht auf den Programmierfehler zurückgehen, gibt es einige: Bei dem einen stimmte die Kontonummer nicht, so dass das Geld irgendwo, aber nicht beim rechtmäßigen Empfänger gelandet ist. Ein anderer bekam zwei Bescheide.

Und schließlich gab es auch noch ein paar hundert, deren Anträge in der heißen Phase vor Weihnachten einfach nicht mehr bearbeitet wurden. "Nicht rechtzeitig bearbeitete Anträge und einzelne Bearbeitungsfehler lassen sich bei der Eile und der riesigen Anzahl an Antragstellern nicht ausschließen", sagt Ottmar Schader, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung, die sich in München mit dem Thema Arbeitslosengeld II - kurz: Alg II - beschäftigt.

Viele Arbeitslose berichten ja auch von anderen Erfahrungen: von freundlichen Mitarbeitern, von pünktlicher, sogar überraschend schneller Überweisung, von unkomplizierter Klärung irgendwelcher Sonderfälle. Richard Liebe sitzt auf dem Flur der Agentur für Arbeit im mittelfränkischen Weißenburg und ist zufrieden.

Nicht mit sich und seinem Leben, denn der 54-jährige Hilfsarbeiter ist seit acht Jahren arbeitslos und das zehrt. Heute morgen aber ist er die 22 Kilometer von seinem Wohnort in die Kreisstadt gefahren, um in der Agentur ein paar Fragen zum Alg II zu klären.

Mit den Leuten hier, in diesem modernen lichtdurchfluteten Agenturgebäude aus Glas, Stahl und Beton, ist Liebe zufrieden. "Die geben sich wirklich viel Mühe", sagt er, während er darauf wartet, dass ihn der Sachbearbeiter ins Büro holt. "Und das Geld war auch pünktlich da."

Erst am Anfang der Reform

Dabei ist Agenturchefin Brigitte Glos gar nicht so zufrieden. "Vom Grundsatz her läuft Hartz IV bei uns besser als woanders, aber es läuft noch nicht richtig gut." Die EDV funktioniere nicht optimal, klagt sie, das Personal sei noch nicht vollständig geschult und nachdem die Auszahlungen klappten, müsse man sich nun aktiver um die Vermittlung der Alg-II-Bezieher kümmern.

Auch dem Geschäftsführer der Münchner Arbeitsgemeinschaft, Michael Baab, macht die Software zur Berechnung des Alg II noch große Sorgen: "Das Programm bindet Kapazitäten, die für etwas anderes nötig sind."

Tatsächlich steht die Hartz-Reform in den 180 Arbeitsagenturen der Republik immer noch am Anfang. Erst ein Zehntel von ihnen wurde zu modernen Kundenzentren umgebaut, die versprochene Verbesserung der Vermittlung in Jobs hat im Vergleich zur Abwicklung der Leistungsanträge hintan gestanden.

Mit heißer Nadel gestrickt

nd jetzt müssen zunächst auch noch überall Zehntausende Widersprüche gegen vermeintlich oder oft auch tatsächlich falsche Bescheide bearbeitet werden. Es ging eben arg hektisch zu im Dezember. Beim Ombudsrat für Hartz IV stapeln sich bereits 5800 Beschwerden, und die Sozialgerichte haben für die vermutetet Klagewelle sicherheitshalber aufgerüstet.

Nun könnte sich rächen, dass das Gesetz mit heißer Nadel gestrickt wurde. Da fällt mancher offenbar unbeabsichtigt durch die Maschen - etwa die Härtefälle von Ex-Junkies, die ihr Abitur nachmachen wollen, anders als früher aber nur noch ein Darlehen vom Staat zum Bafög hinzubekommen und sich so Schulden aufhalsen.

Die Berater in den Behörden diskutieren in Internetforen eifrig, was sie mit bestimmten Menschen tun sollen, die etwa wegen der hohen Einkünfte ihres Partners Leistungen und damit die Krankenversicherung verlieren. Einen symbolischen Cent Arbeitslosengeld II zahlen, damit sie wieder versichert sind, meint der eine; über andere Paragrafen im Sozialgesetzbuch Sonderleistungen organisieren, mutmaßt der andere.

Bei Fusionen dauert es eine Weile, bis es richtig läuft

Vorerst nur auf dem Papier steht vielerorts die Zusammenführung der früher von den Arbeitsämtern verwalteten Arbeitslosenhilfebezieher und der bislang von den Kommunen betreuten arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher, Kernstück von Hartz IV. Hilfe aus einer Hand für alle Langzeitarbeitslosen, das fanden immer alle gut.

Noch aber gibt es alle möglichen Mischformen. Bis die nötigen Räume angemietet oder umgebaut sind und alle Daten hoffentlich in den richtigen Dateien sind, vergehen hier und da noch Monate. Derzeit betreuen viele Sozialämter und Arbeitsagenturen erst einmal ihre angestammte Klientel weiter, nur dass die ehemaligen Sozialhilfebezieher jetzt zusätzlich noch zur Arbeitsagentur müssen.

Auch das Zusammenwachsen der aus Sozialämtern und Arbeitsagenturen zusammengefügten Beratermannschaft zu schlagkräftigen Teams wird dauern, Behördenchef Weise sprach vorsichtshalber schon mal davon, bei Fusionen in der Privatwirtschaft dauere so etwas zehn Jahre. Er hoffe, es werde schneller gehen.

Vor allem steht aber noch der Beweis aus, dass neben dem Fordern - die meisten Langzeitarbeitslosen bekommen weniger Geld, die Zumutbarkeit von Jobs wurde verschärft - auch das Fördern gelingt.

Die Weißenburger Agentur ist mit 31 Planstellen und etwa 2000 erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen eine der kleinsten in Deutschland. In dieser Region gibt es nach einer Welle vieler kleiner Pleiten nur wenig Industrie, abgesehen von einigen Kunststoff-Automobil-Zulieferern. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember bei 8,1 Prozent.

"Unser größeres Problem hier ist, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen immer größer wird", sagt Agenturchefin Glos, "und genau denen sollen wir ja eigentlich mit Hartz IV helfen." Wie das gehen soll, weiß sie nicht. Denn gerade in strukturschwachen Gebieten wie diesen sind die nötigen Jobs für diesen Personenkreis nicht in Sicht.

Für Leute wie Richard Liebe, der nie einen Beruf gelernt hat, sondern nur gejobbt hat, mal hier, mal da, geht es deshalb nur um ein einigermaßen passables Überleben. Während er so auf dem Flur sitzt, erzählt er von der Scheidung und den beiden halbwüchsigen Kindern, die regelmäßig bei ihm übernachten.

"Deswegen brauche ich meine Drei-Zimmer-Wohnung", sagt er und hofft, dass ihn der Sachbearbeiter nun nicht zu einer kleineren, billigeren drängen wird.

Der Berliner Martin M. macht sich ebenfalls keine großen Hoffnungen mehr. "Wer nimmt schon einen mit Mitte fünfzig", sagt er. Und der Chef der Agentur in Berlin Ost, Dreher, leugnet es auch nicht, dass er hier vor allem damit befasst ist, Arbeitslosigkeit zu verwalten. "Wir haben hier weit über 40 Prozent Langzeitarbeitslose und derzeit gerade mal 815 offene Stellen", sagt Dreher.

"Hartz IV schafft keine neuen Stellen"

Bessere Job-Chancen durch Hartz IV, da sind auch die Arbeitslosen in München skeptisch. Paul P. zum Beispiel ist 54 und stammt aus der Medienbranche. Er hat sich seit Januar 2001 so oft beworben, dass er das Zählen aufgegeben hat. Er weiß, dass es in seinem Alter schlecht aussieht.

"Hartz IV schafft keine neuen Stellen, dafür braucht es einen Schub in der wirtschaftlichen Entwicklung." Er hatte sich anfangs Hoffnungen gemacht, dass er in einem Ein-Euro-Job unterkommen könnte. Doch auch da ist er mittlerweile ernüchtert: "Sie funktionieren nicht, damit mache ich doch nur anderen Leuten die Arbeit kaputt."

Roland G. übrigens, der Stahlbauschlosser aus München, sieht das alles gar nicht so negativ. Er hofft, dass er im Frühjahr wieder Arbeit findet, wenn die Saison in seiner Branche wieder anbricht. Aber dafür braucht es kein Hartz IV. Das war schon immer so.

© SZ vom 15.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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