"Ist das nicht ein wunderschönes Geräusch?", fragt Achim Bock. Der Bioland-Bauer aus Schleswig-Holstein steht auf seiner Weide und lauscht, wie vierzig Milchkühe Gras abrupfen und verschlingen. Zwischen ihnen strolcht eine Gruppe von Kälbern herum. Die mutigsten von ihnen nähern sich langsam den Besuchern, strecken die Hälse nach vorne und angeln mit langen Zungen nach Gummistiefeln und Jackenärmeln. Achim Bock und sein Kollege Hans Möller nennen sich "De Öko Melkburen", sie vermarkten ihre frische Biomilch als "4 Jahreszeiten Milch" in Hamburg und Schleswig-Holstein. Seit kurzem liegt neben dem Kühlregal ein neuer Flyer für ihre Milch: "Elternzeit auch für unsere Kühe" steht darauf. Denn Möller und Bock haben beschlossen, ihre Kälber nicht länger nach der Geburt von ihren Müttern zu trennen, wie es in der Milchproduktion üblicherweise gemacht wird, sondern sie lassen die Kälber gemeinsam mit den Milchkühen aufwachsen.
Dass Kuh und Kalb zusammen durch das Gras streifen, mag vielen Konsumenten wie ein vertrautes Bild erscheinen. So wird es in Bilderbüchern meist dargestellt, doch in der realen Milchwirtschaft ist es die Ausnahme.
In Hochleistungsbetrieben sind säugende Kühe nicht vorgesehen
Möller und Bock gehören zu den Pionieren, die das ändern wollen: Drei Monate lang lassen sie die jungen Kälber bei ihren Müttern trinken - die gleichzeitig auch gemolken werden. Das ist möglich, weil moderne Milchkühe so viel Milch produzieren, dass sie problemlos ein Kalb säugen können und noch Milch für die Melkmaschine übrig haben. "Muttergebundene Kälberaufzucht", so der Fachbegriff der Landwirte für diesen natürlichen Vorgang, der in der modernen Landwirtschaft einfach abgeschafft wurde.
In den ersten Tagen nach der Geburt lässt Bock Kuh und Kalb in seinen Apfelgarten. "Dort verstecken die Kühe ihre Kälber am liebsten im Gebüsch", erklärt er, "ähnlich wie Rehkitze". Nach ein paar Tagen bringt er beide zurück in die Herde. "Etwa eine Woche lang hält die Kuh ihr Kalb dicht bei sich", erklärt Bock. "Ab dann lässt sie es zu den anderen Kälbern laufen." Während ihre Mütter Gras fressen, erkunden die Kälber gemeinsam die Weide und kommen nur zum Trinken zu ihren Müttern zurück. "Kindergartengruppe", nennt Bock das.
In der modernen Hochleistungs-Milchviehhaltung ist diese Art der Kälberaufzucht in Vergessenheit geraten. Seit Jahren empfehlen Berater und Stallanlagen-Hersteller große, arbeitstechnisch optimierte Ställe mit Melkrobotern, Fütterungsautomaten und einer computergesteuerten Milchmengenerfassung. In den standardisierten Laufställen hat jede Kuh eine Liegebox, oft sogar mit einer weichen Gummimatratze - doch Platz für säugende Mütter ist in diesem System nicht vorgesehen.
Auch bei den meisten Biobauern ist das nicht anders. Dabei ist die Trennung von Kuh und Kalb keine einfache Sache: Entweder die Milchbauern lassen das Neugeborene ein paar Tage bei seiner Mutter, damit es die wertvolle Biestmilch direkt aus dem Euter trinken kann, oder sie trennen beide sofort nach der Geburt. Manchen Landwirten ist die sofortige Trennung lieber, denn eine Kuh, die ihr Kalb gar nicht erst zu sehen bekommt, trauert in der Regel weniger. Einige Milchkühe, denen die Kälber nach zwei oder drei Tagen weggenommen werden, brüllen ihren Trennungsschmerz stundenlang laut über den Hof. Das hört kein Landwirt gerne.
Auch die Aufzucht der Kälber ohne ihre Mütter macht viel Arbeit. Die Biobauern schleppen morgens und abends Kuhmilch in den Kälberstall und füllen sie dort in Nuckeleimer, aus denen die Kälber trinken. Die konventionell wirtschaftenden Kollegen verwenden in der Regel Ersatzmilch, die sie aus Pulver und warmem Wasser anrühren. In beiden Fällen müssen die Nuckeleimer sorgfältig gereinigt und die Tiere gut beobachtet werden, denn junge Kälber sind anfällig für Durchfälle.
Auch Achim Bock, der seinen Betrieb im Jahr 2000 auf Bio umstellte, hat das jahrelang so praktiziert - ohne damit zufrieden zu sein. "Aus dem Nuckeleimer trinken die Kälber viel zu wenig", sagt er. "Und sie werden oft krank." Deshalb suchte er nach neuen Methoden und entschied sich schließlich für die natürlichste: einfach den Kühen die Aufzucht ihrer Kälber zu überlassen. "Seitdem entwickeln sich die Kälber ganz großartig", sagt Bock. "Sie trinken viel mehr und sie lernen von ihren Müttern ganz früh, wie man Gras oder Heu frisst." Ob sich die Umstellung wirtschaftlich lohnt, hat Bock noch gar nicht genau ausgerechnet. "Die Kälber saufen mehr Milch, dadurch kann ich weniger Milch verkaufen. Das macht etwa 250 Euro aus", sagt er. "Dafür sind die Kälber nach drei Monaten Tränkezeit durchschnittlich 40 Kilogramm schwerer. Außerdem habe ich signifikant geringere Tierarztkosten." Sein Fazit: "Für mich lohnt es sich in jedem Fall, da brauch ich gar nicht rechnen." Das spüre er, wenn er die Kühe mit ihren Kälbern beobachte, und das zeige ihm auch der Zuspruch der Verbraucher.
Zwei Jahre lang erprobten die beiden Öko-Melkburen das Verfahren und informierten dann Presse und Supermärkte. Dass sie ihre Milch auch als Elternzeit-Milch vermarkten können, ist nur möglich, weil sie mit einer kleinen Molkerei in der Nähe kooperieren, mit der Meierei Horst bei Elmshorn, die ihre Milch getrennt abfüllt und etikettiert. Seitdem bekommt Hans Möller begeisterte Mails von Konsumenten aus ganz Deutschland. Manche fragen sogar, ob sie die schleswig-holsteinische Elternzeit-Milch nicht online bestellen oder auch in Süddeutschland kaufen könnten. Aber dazu reichen die Mengen der beiden kleinen Höfe nicht aus.
"Wenn man das sieht, macht die Arbeit richtig Spaß."
Die Agrarwissenschaftlerin Gesa Busch bestätigt die große Nachfrage nach Elternzeit-Milch. Ihre Forschung an der Universität Göttingen zeigt, dass mehr als 80 Prozent der Bürger eine frühe Trennung von Muttertieren und ihrem Nachwuchs ablehnen. Busch sieht darin eine Chance für Landwirte, mehr Geld zu erwirtschaften - aber auch ein Problem: "Ich kann damit nur schwer einen Mehrwert verkaufen, weil vielen Konsumenten das gar nicht bekannt ist. Viele wissen gar nicht, dass Milchkühe in der Regel ihre Kälber nur kurz bei sich haben." Doch wenn die große Mehrheit der Konsumenten etwas anderes will, sollten sich die Landwirte Gedanken über neue Verfahren machen.
Bislang haben das vor allem kleine Biolandbetriebe getan, die ihre Milch direkt an die Kunden vermarkten. Viele von ihnen hat die Pionierin Mechthild Knösel vom Hofgut Rengoldshausen am Bodensee inspiriert. Schon seit 2006 lässt Knösel die 50 Schweizer Braunvieh-Kühe ihren Nachwuchs selbst versorgen. Dort ziehen die Kälber nicht mit auf die weiter gelegenen Weiden, sondern treffen ihre Mütter morgens und abends zum Trinken.
In Bismark in Sachsen-Anhalt hat der konventionelle Landwirt Frank Lenz mitten in der Milchpreiskrise einen neuen Stall für 350 Kühe eingeweiht. Er hat ein System entwickelt, das zeigt, dass sogar in den riesigen Hochleistungsställen Platz für Mutterliebe ist. Vor dem Melken passieren seine Kühe ein automatisches Selektionstor. Jene, die vor kurzem ein Kalb geboren haben, werden zu ihren Kälbern gelenkt, während die anderen direkt zum Melkstand geleitet werden. "Es ist toll, wie Mutter und Kalb sich an den Stimmen erkennen, sich beschnuppern und belecken", schwärmt Lenz. "Wenn man das sieht, macht die Arbeit richtig Spaß!" Begeisterte Hofbesucher, gesunde Kälber und zufriedene Kühe - dem innovativen Landwirt fehlt nur noch eine Molkerei, die seine Milch als Elternzeit-Milch vermarktet und ihm dafür einen besseren Preis zahlt.