Kommentar:Was Amazon lehrt

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Amazon Go will der Supermarkt der Zukunft sein. (Foto: David Ryder/Bloomberg)

Der US-Händler will den "Supermarkt der Zukunft" bauen. Ganz ohne Mitarbeiter. Da sieht die deutsche Branche ziemlich alt aus, oder?

Von Michael Kläsgen

Die beiden Ereignisse haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, und doch zeigen sie beispielhaft, wie groß der Graben zwischen Deutschland und Amerika ist. Der Graben zwischen, ja was eigentlich? Im Grunde sind es Weltanschauungen, auch wenn das pathetisch klingt. Aber genau darum geht es: Um den Blick auf die Welt, im speziellen Fall: die Wirtschaftswelt. Während die Protagonisten bei Tengelmann nach einem quälend langen Geschacher nun darum wetteifern, wer der wahre Retter der 15 000 Arbeitsplätze ist, funkt einer dieser disruptiven Online-Konzerne aus den USA mit einer verstörenden Nachricht dazwischen.

Der US-Händler Amazon lässt mit der Macht eines global agierenden Konzerns übers Internet verbreiten, dass er den "Supermarkt der Zukunft" bauen wolle. Ganz ohne Mitarbeiter. So ist es weltweit in einem Werbevideo im Internet zu sehen. Da schreitet eine attraktive Lady in den Amazon-Supermarkt, greift ein abgepacktes und sicher kalorienarmes Fertiggericht aus dem Regal und spaziert wieder aus dem Laden. Einfach so. Bezahlt wird wie durch Geisterhand per App. Sorglos, einfach, ohne in der Schlange vor der Kasse zu stehen - also ohne Kassiererin oder Kassierer. Das heißt, ohne jene Arbeitnehmer, um deren Arbeitsplatz in Deutschland mehr als zwei Jahre unter Einbeziehung sämtlicher gesellschaftlichen Kräfte gerungen wurde.

Das Bild, das hier entsteht, ist eindeutig und es fällt nicht zum Vorteil von Deutschland aus. Im Gegenteil: Der deutsche Ansatz wirkt rückständig und altbacken. Man hat den Eindruck, das Land verliert sich im Klein-Klein. Der US-Konzern Amazon hingegen steht für die Moderne, für die große, glücklich machende, weltweit anwendbare Lösung: endlich ein Algorithmus gegen Schlangestehen. Die Folge ist, dass Digitalisierung hierzulande eher als Bedrohung wahrgenommen wird, dort aber die moderne Technik zumindest von den Online-Konzernen als Schlüssel für die Lösung der Alltagsprobleme propagiert wird. Unterschiedlicher könnten die Denkweisen kaum sein.

Den mitarbeiterlosen Lebensmittelladen wird es hierzulande vorerst nicht geben

Doch auch wenn Amazons Vision vom Supermarkt von morgen mehr verfängt als das scheinbar kleinkarierte Pokern um jede Filiale in Berlin: Der deutsche Ansatz ist der richtige. Amazon inszeniert hingegen nur Budenzauber. Den weitgehend mitarbeiterlosen Supermarkt wird es so in absehbarer Zukunft nicht geben, nicht in Deutschland. Amazon dementierte am Donnerstag denn auch ungewöhnlich offensiv die Nachricht, wonach 2000 dieser Amazon-Go-Märkte eröffnet werden sollen. Das war eine bloße Erfindung. Leider drohte sie auf den Aktienkurs zu drücken. Zu viel Beton tut dem nicht gut.

Die schlangenlose Traumwelt wird deswegen vorerst nur für Mitarbeiter auf wenigen Quadratmetern in Seattle entstehen. In Deutschland tut man derweil gut daran, sich über den Erhalt der realen Arbeitsplätze zu freuen. Sie schaffen einen greifbaren Mehrwert in Form von Lohn und Gehalt. Zumindest für fünf Jahre. Was danach passiert, wird man im nächsten Jahrzehnt beurteilen müssen. Sich deshalb selbstgefällig zurücklehnen, wäre auch fehl am Platz. Die deutschen (Lebensmittel-)Konzerne dürfen sich schon etwas abschauen von den US-Glücksjägern und Innovation in größeren Kategorien denken. Aber es wäre auch okay, wenn ihre Filialen erst einmal dafür sorgen, dass die Kassen besetzt sind, ehe sich Schlangen bilden.

© SZ vom 09.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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