Kommentar:Teurer Zerfall

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Der Rückhalt für den deutschen Kurs zur Euro-Stabilisierung schwindet. Und das ist nur eine der Fliehkräfte auf dem Kontinent. Für mehr Wohlstand braucht die EU den Mut williger Nationen und außerdem starkes Führungspersonal.

Von Alexander Hagelüken

Der konservative spanische Premier verlor seine Mehrheit. Die neue Links-Regierung in Portugal erhöht die Feiertage. Und Italiens Ministerpräsident opponiert ständig gegen den Stabilitätspakt. Es ist offensichtlich: Der von Deutschland geprägte Kurs der Stabilisierung des Euro ist unter Druck. Die (richtige) Einsicht, wonach eine Währungsunion nur als Verein der Reformer funktioniert, verliert den Rückhalt. Die Riege der Widerständler zählt nicht mehr nur das ewig irrlichternde Griechenland, sie wird zur Massenbewegung.

Das wäre bedenklich genug. Doch der neue Währungs-Hader ist nur eine der Fliehkräfte, die Europa gerade auseinandertreiben. Großbritannien, bockiges, aber wertvolles EU-Mitglied, spielt mit dem Exit. Der Zustrom der Flüchtlinge und der Zwist um ihre Verteilung reißen neue Gräben auf. Es mag übertrieben wirken, wenn Jean-Claude Juncker aus einer Rückkehr zu Grenzkontrollen gleich "unbeherrschbare Arbeitslosigkeit" erwachsen sieht. Doch der EU-Kommissionschef hat einen Punkt. Zäune behindern die ökonomische Verflechtung, die Europas Wohlstand generiert. Allein wenn an Landesgrenzen wieder regelmäßig Lkw gefilzt werden, kostet das Milliarden Euro.

Der neue Währungs-Hader ist nur eine der Fliehkräfte, die auseinandertreiben

Wer dieses Bedrohungspotenzial sichtet, fragt sich, was die EU die nächsten Jahre für ihre Staaten sein kann. Ein Impulsgeber, der wie oft zusätzliches Wachstum schafft, die national nicht entstünden? Momentan läuft es auf einen Streit-Club hinaus, dessen Energie für die Sicherung seiner Existenz draufgehen wird. Gefährlich in einem Moment, in dem sich viele Länder gerade von einer jahrelangen Wirtschaftskrise erholen.

Vor einem Vierteljahrhundert befand sich Europa in ähnlicher Situation. Auch damals wurde, unter dem heute vergessenen Begriff "Eurosklerose", debattiert, wie viel Integration für die EU-Staaten gut wäre. Eine Gruppe um den Bankier Paolo Cecchini trommelte für mehr. Wenn Europa einen Raum ohne Grenzen kreiere, mit freier Bewegung von Waren, Geld und Menschen, wachse die Wirtschaft stark. Am Ende entstand der Binnenmarkt, der seit nun 20 Jahren die Konjunktur von Malmö bis Messina befeuert.

Auch heute gibt es Pläne. Brüssel möchte die Wirtschaft etwa durch Investitionsoffensiven beleben und durch eine digitale Dimension des Binnenmarkts. Doch die Regierungen wirken müder und zerstrittener als damals. Das liegt auch daran, dass damals Konflikte zugekleistert wurden, die nun umso härter aufbrechen. Als der Euro entstand, hätte er ein Korsett permanenter Wirtschaftsreform oder die Vorgabe gebraucht, dass reformunwillige Länder ausscheiden. Dann gäbe es jetzt nicht ständig Richtungsstreit, wie sich ein Staat in der Währungsunion verhalten muss. Ein weiterer Grund, warum große Würfe gerade wenig aussichtsreich erscheinen, ist die Erweiterung. Damals zählte die EU 12 Mitglieder, nun 28 - und viele der mittelosteuropäischen Zugänge agieren national statt kooperativ.

Die Erinnerung an den Cecchini-Report nährt aber nicht nur Skepsis, sondern auch Hoffnung. Denn sie zeigt, dass Europa niemals einfach war. Auf den EU-Gipfeln, die den gemeinsamen Binnenmarkt verhandelten, gab es häufig Kampfabstimmungen. Die Botschaft: Europa kann sich auch in den heutigen Krisenzeiten wirtschaftlich stärker integrieren.

Die Voraussetzung wäre der Mut williger Nationen, zur Not allein mit einem Projekt voranzuschreiten. Die anderen kommen schon nach, wenn sich der Erfolg einstellt. Dafür gibt es in der EU-Geschichte Beispiele. Die zweite Voraussetzung für einen Fortschritt ist allerdings starkes Führungspersonal. Wie sieht es damit aus?

Die Kommission hat mit Jean-Claude Juncker nach Jahren wieder einen politischen Kopf an der Spitze, noch dazu einen Kompromisse-Schmied. Schwieriger ist die Lage bei den großen Nationen, vor allem der deutsch-französischen Achse, ohne die sich wenig bewegt. François Hollande oder der nächste französische Präsident müssten die Ansätze aufnehmen, die Hollande in letzter Zeit manchmal zeigte. Die Jahre zuvor war er Europa keine Hilfe. Und Angela Merkel ist vor allem eine Krisenmanagerin. Nur wenn sie Europa als Projekt ihrer späten Kanzlerschaft entdeckt, gibt es wirklich Hoffnung. Dazu müsste sie dann allerdings für eine Vision werben, statt mit dürrer Rhetorik zu verwalten. Sie müsste den Euro-Krisenstaaten einen Wachstumspaket anbieten, damit die sich in den Kurs eingebunden fühlen. Und sie müsste sich mit wichtigen Regierungen abstimmen, bevor sie wie im September die Grenze für Flüchtlinge öffnet. Die Kanzlerin scheint auf längere Zeit eher mit ihrem politischen Überleben beschäftigt als mit der Zukunft Europas.

© SZ vom 19.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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